“Und ich entschwinde / Im bösen Winde …“: Frank Stückemanns Neu-Übersetzung von Paul Verlaines musikalisch inspirierter Dichtung

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Empfehlung des Monats · August 2018
von Michel Ackermann

 

 

 

Die Frage der Übersetzbarkeit von originärer Lyrik in eine andere Sprache berührt die Frage der Übersetzbarkeit von Sprache schlechthin. Denn Sprache selbst ist eine kreative Übersetzung menschlicher Wahrnehmung in mehr oder weniger angemessene(n) Laute(n). Der Auftrag der Übersetzung einer fremden Wahrnehmung (der des fremdsprachlichen Dichters in seiner Sprache) in eine andere Wahrnehmung (der des Übersetzers in seine eigene Wahrnehmung der Wahrnehmung des Dichters) muss von daher ein sehr besonderer sein …

… um nicht zu sagen: ein prekärer.

Oft und meist unbeabsichtigt wird eine Übersetzung mehr zur Begegnung mit der eigenen Sprache und ihrer Sprachmöglichkeit. Sei es, weil die Annäherung grundsätzlich nicht gelingen will, sei es weil bei der Übersetzung von Gedichten die Verführung naheliegt, sich selbst anhand des fremden Textes als Dichter in den Vordergrund zu drängen. Das Original bedeutete in diesem Fall keine ernsthafte Einladung, in die Sprachwelt des Anderen tiefer einzutauchen.

Ersteres ist vielen Übersetzern von Verlaines Versen unterlaufen, wenn auch mit manch guten Ergebnissen, die aber eben mehr von sich selbst erzählen als von Verlaines Dichtung. Frank Stückemanns Ansatz ist dem entgegen das klanglich und musikalisch-rhythmisch genaue Nachvollziehen von Verlaines Gedichten, dessen Sprachkunst sich in einer geradezu unnachgiebig-elegant und bis ins Skurrile hinein autonom einherschreitenden Metrik von musikalisch (statt “sklavisch-metrisch“) aufgefassten Versfüßen ausmachen lässt: Die Musiktradition des französischen Barock als Inspirationsquelle inhaltlicher und tänzerischer Gestalt weist Frank Stückemann im Nachwort des vorliegenden Bandes nach. Ein Gedichtband, dessen Aufwand und Leidenschaft durch die etwas spartanisch (eher wissenschaftlich als an liebevoller Aufmachung orientiert) wirkende Herausgabe des Buches leider zu wenig herausgehoben wird.

Die Unterschiede von Verlaine-Übersetzungen sind indessen nicht nur Finessen für Fachleute. Sie sind groß, und um das nur an einem winzigen Beispiel zu verdeutlichen, seien hier verschiedene Übertragungen der ersten drei Zeilen von Verlaines berühmtem “Chanson d’automne“ zitiert.

Verlaine dichtet: “Les sanglots longs / Des violons / De l’automne / Blessent mon coeur / …“ Stefan George übersetzt das beispielsweise so: “Seufzer gleiten / die saiten / des herbsts entlang / Treffen mein herz / …“ Nun steht von “Gleiten“ bei Verlaine kaum etwas und der weiche Rhythmus des Französischen wird durch die kurzsilbigen deutschen Worte zu etwas anderem. Anders Hans Krieger im Jahr 2005: “Ein Celloklang / so hell und bang; / Oktober schon. / Das Herz wird mürbe, / …“ Das klingt schlicht und zeitgemäß, aber abgesehen davon, dass nicht klar ist, warum Violinen zu einem Cello werden müssen, steht bei Verlaine nichts davon, dass der Klang (bei Verlaine: “sanglots“: Schluchzer oder Tränen) hell und bang sei. Und bereits in den 60iger Jahren versuchte sich Wilhelm Willige mit: “Es schluchzt so bang / der Herbst wie Klang / von Geigen / …“ Auch hier wird es jemandem  “bange“, ohne dass Verlaine von einer Furcht sprach. Und auch hier nähert sich die Metrik nicht der Eleganz des Französischen an, sondern wird der härteren Metrik des Deutschen angepasst.

Frank Stückemanns Ansatz hingegen versucht (und das ist das Erfrischende dieser Übersetzung) nicht genauso “gut“ wie Verlaine zu dichten, es geht ihm um eine musikalisch-übertragende, inhaltlich möglichst wortgenaue Näherung, soweit sie im Deutschen irgendwie möglich ist. So heißt es bei ihm hier nur: “Die Violinen / Vom Herbst beginnen / Lang zu stöhnen; / Mein Herz versehren /…“ Da mag ein lyrischer Schöngeist stutzen und stolpern. Es ist aber am genauesten (eben auch in rhythmischer Hinsicht) das wiedergegeben, was Verlaine schreibt: In meinem inneren Ohr hat Stückemann mit diesem Ansatz der Übertragung für Paul Verlaines Dichtung den Nagel auf den Kopf getroffen. Mögen sich viele Lyrikliebhaber auf solch einen Übersetzer-Mut einlassen und diesen in Verlaines Lyrik genießen.

Paul Verlaine
Gedichte I
Zweisprachige Ausgabe französisch/deutsch
Übersetzt und kommentiert von Frank Stückemann
(Lyrik-Taschenbuch Rimbaud Nr. 117)
500 S., geb., 2018
ISBN 978-3-89086-333-7
€ 45,-

Backcover Paul Verlaine, Gedichte I, Rimbaud Verlag 2018
Autor und Übersetzer Frank Stückemann