Jutta Pillat: die aus der kälte kommen. portraitgedichte

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Empfehlung des Monats · September 2017
von Urte Skaliks

 

 

 

Von Dr. Jutta Pillat aus Leipzig, deren kunstreiche Sprachspielerein u.a. in „Nonsens oder was?“ und „Süßholz raspeln“ ihre Liebhaber gefunden haben und die auch lockere Schreib-Workshops anbietet, ist kürzlich ein überraschendes Gedichtbändchen mit ganz anderer Thematik erschienen.

Allein Titel und Untertitel von „die aus der kälte kommen. portraitgedichte“ signalisieren ein eher ernstes Thema, das zugleich Neugier und Interesse wecken kann.

Eine kluge redaktionelle Notiz auf dem Rücktitel stellt den biografischen Bezug zur Herkunft der Autorin „aus der kälte der nachkriegszeit“ her: „in oft wenigen lyrischen zeilen entfalten sich ganze geschichten“ über das, „was ans licht wollte: nach dem aushalten von kälte die suche einer möglichen wärme“.

Gleich am Anfang (S. 5) eine Reflektion der Autorin zu ihrer inneren Verortung in der Welt der „Figuren“, die sicher unmittelbar das Leserinteresse anspricht: „ich steh / in dieser / selbstgewählten / acht … und komme nicht davon“, gelebtes Leben durchscheinend, Offenheit, vielleicht gar Geständnisse, Mut und doch Dezenz.

Anlass für die Wahl der portraitierten Personen: „die oft sehr emotionalen begegnungen mit den in erscheinung getretenen waren von äußerster eindringlichkeit, führten sie doch beim nachsinnen zu äußerungen, die festgehalten werden wollten … ein vorgang, als hätte sich ‚blitzeis‘ gebildet“ (S. 11). (Nebenbei darf man hier den Chiliverlag zur Wahl des marmorierten Papiers beglückwünschen, das beim Lesen an Eisblumen denken lässt).

Portraits – und viele verschlüsselt, beim langsamen Bedenken sich erschließend. Enträtseln, Suchen, Finden, für Lyrik-Erfahrene und auch weniger Erfahrene: zur Freude an manch überraschend neuem Wort gesellt sich herausfordernd das Personenraten.

So legt es die Autorin selbst in dem Gedicht „der weltmaler aus leipzig, N.R.“ nahe: „träume wie aus dem kaleidoskop … manchmal tragen die figuren masken,/ wenn sie aus der kälte kommen“ (S. 22). Sehr sinnreich wurden die letzten Worte des Verses für den Buchtitel gewählt. Und weiter geht es programmatisch im Gedicht:

„und doch sind es figuren,
die da erzählen von ihren
fleischlichen und sinnlichen Geschäften
im irgendwo.

splitter eben in dem bild von der gegenwart.
farbe und zeichen und strich neigen einander zu
komposition von früher und währendem.
eventuell entsteht daraus etwas für morgen.

rätsel machen stumm. …“ ( Seite 23).

Portaits von Figuren also, Figuren des Malers und viele offen oder mit Initialen benannte, auch ganz unbenannte reale oder gemalte Personen, Künstler oder Figuren nicht selten aus Kunstwerken, aufgedeckt oder zum Erraten auffordernd.

Dies ist fast ein – zugleich ganz persönliches – Geschichtsbuch. An die fünfzig Figuren werden mehr oder weniger erkennbar, gern aus der fernen und nahen Geschichte, gern in der Gegenwart angesiedelte: Aphrodite, Luther, Marilyn Monroe, David Garrett. Einsteigen womit am besten? Vielleicht mit: „ein sohn“, der „geschichte von einem vertriebenen“? Bei all den „Figuren“ erkennbar: Mühsal der Herkunft und der Ankunft und alles Weiteren. Immer wieder auch in einer scheinbaren Idylle ein Frösteln oder Frieren, so bei „kleines. / minimale spermie aus dem eis trifft ei“, mit der Wendung vom „wunschkind“ zum „wutkind“ und „schluchzen und schrei, verlassen … ob denn der same / nicht besser dort / im eis geblieben wäre?“ (S. 79). Oder (zum fischenden Kormoran, S. 78): „es ist nicht klar, ob man die art / jagt oder erhält, ihn leben lässt oder missbraucht. /immer diese offenen fragen. / sicher, es ist ja kein / schwan.“

In aller Kürze werden bilderreiche Geschichten erzählt, bei aller seltenen Hermetik wird informiert, auch mal belehrt, aber immer kurz, verdichtet, geformt – zu einem ambivalenten politischen Zeitenbild. Da sind Welten, Weltgegenden, Vergangenheit und Gegenwart gleichermaßen, im Glück erlebte Sehnsuchtsorte, Lebendigkeit, freudig geschildert – und dann taucht, wie in „jauchzend und bestürzt“ (S. 66) hinter den „glocken vom rathaus in oslo“, hinter dem „colorkreuzer: übermächtige(n) bonbonschachteln … dann die Insel utoya“ auf. Und im „portrait vom tanz der toten“ (S. 85): „schmerz und auch blut sitzt im tango“. Und doch zuletzt heißt es wieder mutig in „hochstand“ (S. 82): „die hinzugewachsene heimat. in der ich leben wollte./ gern, nur schwer hineinfand. suchte./ es lernen wollte, dass der fluss hier nicht die elbe war./ es war der rhein, die lebensader, der kam und floss / und oft auch mitriss./ der nicht immer ungefährlich über seine ufer trat./ und doch befuhr ich ihn.“

Dies ist ein Büchlein, das mich sehr angerührt hat. Das Buch fordert heraus, regt an und macht es einem leicht, sich hinein zu vertiefen, dabei zu bleiben. Ältere werden wohl vieles wiedererkennen – keine Angst vor „moderner“ Lyrik! Aber gerade Jüngeren möchte ich es ebenso empfehlen. Sie könnten am Ende fremdes – und eigenes – Leben besser verstehen.

(c) Urte Skaliks

Jutta Pillat, Fotoausschnitt von Foto Hans-Dieter Sägenschnitter, bearb. chiliverlag

Jutta Pillat, „die aus der Kälte kommen. portraitgedichte“
chiliverlag, März 2017
ISBN 978-3-943292-55-8,  € 8,90

Homepage der Autorin
http://www.suessholz-raspeln.de/