Empfehlung des Monats · Juni 2018
von Franziska Röchter
#poesie –> Eine Anthologie von Nora Gomringer und Martin Beyer
Hashtags sind modern. Sie wirken jung, jugendlich, „fresh“, und womöglich kaum ein „social-media“-begeisterter kommunikationsaffiner Internetuser unter 30 würde sich veranlasst sehen, überhaupt die konkrete Frage nach der Bedeutung dieses Zeichens zu stellen …
In der Tat sagte mir einmal jemand, er fände es „total witzig“, dass ich Hashtags benutzen würde, was wohl andeuten sollte, dass der exzessive Umgang mit der Raute eher typisch für eine bestimmte Alterstruktur sein könnte. Unter Umständen könnte es aber genauso gut ein Hinweis auf eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur sein.
Ursprünglich ist ein Hashtag ein Begriff aus der Welt der „sozialen Medien“, genau genommen ein durch den Microblogdienst Twitter geprägter Begriff.
„Ein Hashtag (Neutrum, zusammengesetzt aus engl. hash für das Schriftzeichen Doppelkreuz [„#“] und engl. tag für Markierung) ist ein mit Doppelkreuz versehenes Schlagwort, das dazu dient, Nachrichten mit bestimmten Inhalten oder zu bestimmten Themen in sozialen Netzwerken auffindbar zu machen.“, lautet die Wikipedia–Definition.
Wie kann nun ein Hashtag im Bereich der Printmedien, ja im Bereich Poesie funktionieren? Automatisch fallen mir Begriffe wie „Stichwort“ oder „Index“ ein. Genau das hatte ich eigentlich ursprünglich erwartet: Am Ende des Buches, möglichst in alphabetischer Reihenfolge, ein Stichwortverzeichnis mit Seitenangaben, um zu bestimmten Suchbegriffen passende Texte, in denen diese Begriffe eine Rolle spielen, ausfindig zu machen. Eigentlich aber auch bei 128 relativ überschaubaren Seiten nicht wirklich nötig, denn dieses Buch nimmt man immer wieder mal zur Hand, und ähnlich dem manchmal ziellosen Zufallssurfen im Internet, das einem beim Tun erst das möglicherweise Gesuchte vor Augen führt (#vomhölzchenaufstöckchenkommen) blättert man sich hier von Suchbegriff (oder Hashtag) zu Suchbegriff, um dann an einem Text von besonderem persönlichen Interesse hängenzubleiben. Welche Vielfalt an Suchbegriffen einem entgegenschlägt, kann der geneigte neugierige Leser direkt auf der ersten und letzten Seite des auf griffigem #fastschonfotopapier gedruckten Buches erforschen, dort tummeln sich hunderte Begriffe, die exemplarisch für die möglichen tausende und hier nicht erwähnten stehen – wahllos seien hier #sprechpoesie, #lautlesen, #geschlechterrollen, #istdaseingedicht oder #fehlerimsystem genannt – und verweisen auf die endlose Bandbreite an Themen, die man in aktueller Poesie, in Gedichten, in lyrischen Texten finden kann.
Nun blättere ich (wie andere surfen) mit unbestimmtem Ziel durch das Buch, um ziemlich schnell an einem mir bekannten Namen stehenzubleiben: JÜRG HALTER. Sein Gedicht „Ich bin“ wird folgendermaßen gehashtagt:
#mondgedicht #planet #sonne #weltraum #sichwundern #raetsel #lyrischesich #ichdissoziation #erkenntnis #ichundwelt #romantik #ontologie #wissenschaft:
JÜRG HALTER
Ich bin
Mond, der hält sich außerhalb unserer Vorstellung
Mond, der oben bleibt unerreichbar
Mond, der sich ums Sonnenlicht schert
Das Sonnenlicht – wie findet es zu ihm?
Der Raum ist durchschaubar und dicht
und ich bin, ist zuviel gesagt
Ich logge mich bei Twitter ein, um unter dem Hashtag #mondgedicht weitere Gedichte um den Mond zu finden, oder zumindest Hinweise darauf, Verweise … Es mag wohl an meinen mehr sporadischen bis zurückhaltenden Twitteraktivitäten liegen, dass nur zwei Einträge angezeigt werden, einmal einer aus dem Lenbachhaus München sowie ein Tweet eines KUNSTfreundes. Dennoch lädt mich dieser bescheidene Erfolg zum Weitersuchen ein: auf Facebook zum Beispiel. Ein interessanter öffentlicher Beitrag über eine vergangene Veranstaltung mit Lyrikfaktor im Planetarium Hamburg springt mir hier entgegen. Zum Hashtag #ontologie erhalte ich auf Twitter unzählige Beiträge und überlege, ob ich folgenden Tweet absondern soll: so wenig #mondgedicht. #sichwundern.
Und wundere mich auch, warum Alexander Nitzbergs Claire de Lune im Buch nicht auch den Hashtag #mondgedicht trägt.
Zweifellos ist das Buch #poesie, herausgegeben von #Nora Gomringer und #Martin Beyer im Verlag Voland & Quist, eines, das nicht nur zum Lesen, sondern zu weiteren Aktivitäten einlädt. (Eine Eingabe des Hashtags #poesie auf Twitter kann übrigens eine tagesfüllende Lesebeschäftigung nach sich ziehen.)
Ich ignoriere nun einfach die Hashtags und lese ein paar Texte, die mir spontan aufgrund der Autoren oder der Titel ins Auge springen – heißt es doch in der Verlagsbeschreibung: „Die Anthologie »#poesie« unternimmt etwas gegen den schlechten Ruf der Lyrik.“ Auffallend ist die immense Bandbreite an Textarten, die allesamt als lyrische Texte durchgehen können, oder als Poesie schlechthin: Slamtexte (Syntax Error, Bas Böttcher), Raptexte, Songtexte (Leider geil von Deichkind, 40 Cent von LaBrassBanda), Gedichte (Krankgeschrieben von Ulla Hahn), humorvolle Gedichte (Gänseblümchen von Heinz Erhardt), Bildgedichte (Wie ein Gewitter von Lydia Daher) und viele mehr.
Allem vorangestellt ein Schnelldurchlauf durch die Geschichte der Literatur mit ihren Epochen und Themen, von Barock über Sturm und Drang bis zu Realismus und Moderne, kurze Zusammenfassungen auf jeweils einer drittel Seite, dann die Themen #Terror, #Gender und #Natur ebenfalls kurz vorgestellt, als seien sie für diese Zeit und für diese Herausgeber besonders exemplarisch im Hinblick auf zeitgenössische Gedichte.
So lässt sich festhalten: Diese Anthologie ist nicht nur bestens dazu geeignet, junge Menschen an Begriffe wie Gedicht, Lyrik, Poesie heranzuführen, ihnen die Scheu und die Vorbehalte zu nehmen, sondern auch den Blickwinkel der älteren Generationen auf all das, was Poesie sein kann, zu erweitern, und wirbt für einen umfassenden Poesiebegriff und ein aktives Poesieverständnis, das auch jenseits traditioneller Gedichtformen das Poetische im Alltag zulässt – mit Erfolg.
#poesie
Anthologie, Flexcover, herausgegeben von Nora Gomringer und Martin Beyer
Mit Texten von
Ernst Jandl, Thomas Bernhard, Peter Fox, Heinz Erhardt, Advanced Chemistry, Thomas Kunst, Rödelheim Hartreim Projekt, Thomas Brasch, Deichkind, Ilma Rakusa, Ulrike Almut Sandig, Ron Winkler, Bas Böttcher u. v. a.
Mit Illustrationen von Reimar Limmer.
Verlag Voland & Quist
ISBN 978-3-86391-197-3, 128 Seiten, Euro 20,00
Nora Gomringer hat mehrere Lyrikbände vorgelegt und schreibt für Rundfunk und Feuilleton. Neben zahlreichen anderen Auszeichnungen sowie Aufenthaltsstipendien in Helsinki, Venedig, New York, Nowosibirsk und Kyoto wurde ihr 2012 der Joachim-Ringelnatz-Preis für Lyrik zuerkannt, 2015 wurde sie mit dem Bachmannpreis ausgezeichnet.
Martin Beyer ist promovierter Germanist und arbeitet als Schriftsteller und Dozent für Storytelling und Kreatives Schreiben in Bamberg. 2009 erschien im Klett-Cotta Verlag sein Roman »Alle Wasser laufen ins Meer«, 2013 der Erzählband »Mörderballaden« bei asphalt & anders, für den er mit dem Bayerischen Kunstförderpreis ausgezeichnet wurde.
(Quelle: Waschzettel Voland & Quist)