
Empfehlung des Monats Oktober von Steffen Marciniak:
Leander Beil: „captions“
Leander Beil wurde 1992 geboren und lebt in München als Lyriker, Journalist und Historiker. Er studierte und promovierte an der LMU-München. Danach war er Journalist – unter anderem im Bereich Wissenschaft und Bildung – beim Bayerischen Rundfunk. Er war Preisträger des Klopstock-Förderpreises 2023 und 2. Platz beim Hanns-Meinke-Preis für junge Lyrik 2024. Zudem liegen diverse Veröffentlichungen in Anthologien und Zeitschriften vor.
Mit captions legt Beil ein Buch vor, das von Beginn an Haltung bezieht: gegen Pathos, gegen Verklärung, gegen die bequeme Ästhetisierung von Natur. Diese Verweigerung ist kein beiläufiger Gestus, sondern das poetische Grundprinzip des Bandes. Beils Sprache wirkt kühl, distanziert, präzise – und gerade darin verspielt. Schon auf Seite 8 heißt es:
„du bist waldbefangen…“
„mondknoten / im bauch / schrecklich dicke / mondknoten“
Wahrnehmung wird in den vorderen Gedichten des Vor-Kapitels „wenn du nur“ zur inneren Bewegung. Der Blick auf Farbe, Haut und Natur entwirft kein äußeres Bild, sondern eine Art tastende Innenschau, in der die Grenzen zwischen Körper und Landschaft verschwimmen.
„Ein paar Striche, ein Kreis“ verursacht das Werden des Sehens – das Erwachen der Farbe als Erinnerung und Empfindung. „Mit Schneewasser muss man da ran“ (S.9) dagegen ist ein Reinigungsritual, eine Rückkehr zum Nackten, zum Ursprünglichen. Beide Texte teilen eine Sprache des Tastens, eine unaufdringliche Körperlichkeit. Sie verbinden das Vergängliche (Haut, Licht, Schatten) mit der Spur des Lebendigen, das noch im Verschwinden leuchtet. Im Zusammenspiel entsteht ein poetischer Zyklus über das „Entfärben“ der Welt – und das Wiederfinden der Stille im eigenen Körper.
Beils Verse stehen exemplarisch für eine Poetik, die Trost verweigert und stattdessen Wahrnehmung schärft. Natur erscheint nicht als erhabene Kulisse, sondern als technisiertes, urban durchzogenes Material – Asphalt, Traktoren, Pigmente. Beil fragmentiert Natur, löst sie aus romantischen Kontexten und überführt sie in eine Gegenwartslyrik, die zugleich analytisch und empfindsam bleibt.
So entsteht eine Sprache, die die Welt nicht glättet, sondern in ihren Rissen sichtbar macht. Die stete Abgrenzung von Pathos birgt allerdings die Gefahr, sich an einem Gegner abzuarbeiten, den die Texte längst überwunden haben. Gerade daraus erwächst jedoch die Stärke des Bandes: Natur wird nicht mehr als Resonanzraum für Sehnsucht begriffen, sondern als Schicht aus Prozessen, Texturen und Sedimenten. Beil schreibt gegen die Idee des Repräsentierens – er befragt, seziert, rekombiniert. Seine Naturpoetik ist eine der Bewegung, nicht des Trostes.
Es findet sich so viel rhythmisch fein gebautes, manchmal mit einem fast liturgischen Sprachzug (S. 16). Der Text hat etwas Archaisches, eine Mischung aus Waldmythos und Erinnerungspoetik.
„früher bist ins holz / zu den moosleut / tief ins holz / die zähen standzeiten / deines atems schlagen / man hat die axt abgelegt / wenn der nachtjäger kam / hat sich gehüllt / in die engelmembran / das moos das moos …“
Auch das Gedicht auf Seite 19, wunderbar, sehr präzise in seiner Metaphorik — ein Gedicht, das sich wie ein alchemistischer Prozess entfaltet: vom Wechselkurs des Lichts bis zu den getauften Mondkratern. Die Sprache ist hier fast metallisch — kühl, chemisch, zugleich zart wie ein Gravurvorgang im Dunkeln.
„das licht wechselt / seine währung / silber / bleizucker / schlafmohn / dann der große / goldrausch / die mondkrater / ruhen / eingeritzt / und tropfend / gefasst darauf / dass man / ihnen / bald wieder / neue namen gibt“
Es folgt der titelgebende Zyklus „captions“. Die Kapitelstruktur des Buches folgt keiner Hierarchie, sondern einer offenen, zirkulären Bewegung durch Themen wie Natur, Stadt, Geologie, Konsum und Kindheit. Diese Gleichrangigkeit verweigert eine klassische lyrische Steigerung und erzeugt stattdessen ein Schweben zwischen Fragment und Kontinuität. Das französische Motto „La Dialectique peut-elle casser des briques?“ („Kann die Dialektik Ziegel zerschlagen?“) von René Vienet verweist auf den situationistischen Impuls des Zerschlagens von Form – ein Prinzip, das Leander Beil in Sprache übersetzt.
Bemerkenswert ist der Umgang mit Körperlichkeit und medialer Darstellung, etwa auf Seite 29:
„ich mag filme die / die verdammten wurzeln / der achtziger jahre umarmen / ungeschnitten
loslegen / wirklich gebt mir titten ich habs / schon oft gesagt /ich hätte auch gerne / mehr schwänze in filmen / unbeschnitten ihr könnt mich / einen homosexuellen nennen / so viel ihr wollt aber / dieser scheiß batman penis / zum beispiel der tauchte in / einem einzigen comic-buch / auf und verschwand wieder“
Diese Passage provoziert – aber nicht als Skandal, sondern als kulturkritischer Kommentar. Beil thematisiert männliche Nacktheit, queere Zuschreibungen und Sichtbarkeit in der Popkultur mit ironischem Ernst. Das Pop-Vokabular und die Körperreferenzen öffnen den Diskurs über Repräsentation, ohne ihn zu moralisieren.
Die Kapitelstruktur des Zyklus` aus 14 Kapiteln, folgt keiner Hierarchie, sondern einer offenen, zirkulären Bewegung durch Themen wie Natur, Stadt, Geologie, Konsum und Kindheit. Diese Gleichrangigkeit verweigert eine klassische lyrische Steigerung und erzeugt stattdessen ein Schweben zwischen Fragment und Kontinuität. Das französische Motto „La Dialectique peut-elle casser des briques?“ („Kann die Dialektik Ziegel zerschlagen?“) verweist auf den situationistischen Impuls des Zerschlagens von Form – ein Prinzip, das Beil in Sprache übersetzt.
Beils Gedichte wirken wie Tonspuren einer experimentellen Platte: verschoben, überblendet, frei von Auflösung. Natur wird zu einem urbanen und materiellen Faktum:
„dein traktorenschweres festhalten / an dem wort natur“
„luftbildromantik wegschraffiert“
Und auch in diesen Kapiteln, wie im 9. auf S.71, Poetisches zuhauf:
„zurück zu der jahreszeit in der / wir uns gerade befinden / es ist glockenhelle morgengrauen / und hier gibt es so viel / dass ich gar nicht weiß wo anfangen / ich könnte sechs stunden / machen über mythen ich habe / wunderschöne bücher / wir können uns das täglich / erwachen / vorstellen die papyrusbüschel / die doppeldolden es dreht sich / alles um die sonne / tatsächlich gibt es gerade jetzt / einen krieg im himmel“
Das ist fast wie ein Prolog oder ein lyrischer Monolog, der aus dem Morgengrauen heraus in ein kosmisches Sprechen kippt. Der Text hat einen performativen Duktus, als würde jemand frei vor einem Publikum reden — eine „Rede aus Licht“, die vom Alltäglichen (Erwachen, Sonne, Pflanzen) in die Mythenebene überblendet („einen Krieg im Himmel“). Es entsteht eine Spannung zwischen geerdeter Beobachtung und apokalyptischer Vision.
Im weiteren öffnet sich der Band zu prosaischen, fast bewusstseinsstromartigen Passagen:
„das nächste wort ist / schluchzen / klingt für laien wie weinen und / schnüffeln zur gleichen zeit“ (S. 99)
„mein persönliches lieblingswürzmittel / die mayo also“ (S. 91)
Diese Form des Mäanderns schwächt stellenweise die Spannung, bleibt jedoch dem Konzept einer offenen, fragmentarischen Poetik treu. Beil verweigert die Dramaturgie eines lyrischen Crescendos zugunsten einer Horizontalität, in der jedes Motiv gleichwertig bestehen darf.
Die Besprechung kann nur einen kleinen Einblick geben in die 104 Seiten mit meinem persönlichen Favoriten, dem zwanzigseitigen Vorzyklus „wenn du nur“. Leander Beil wagt dann den Bruch, das Nebeneinander, das tastende Spiel. Der Band zeigt Haltung – eher gegen Pathos, für Präzision – und eröffnet so einen selten konsequenten Beitrag zur Gegenwartslyrik.
Leander Beil:
captions
Broschur, 104 S., 20,00 €
ISBN 978-3759786913
edition offenes feld, Berlin 2025
