Empfehlung des Monats · April 2017
Mit einem Best of präsentiert sich hier die 2016 verstorbene Autorin Sigrid Lichtenberger aus Bielefeld. In der Lyrik einer 1923 geborenen Autorin möchte man fast unbedingt mit antiquierter Sprache und Zeitzeugenschaft konfrontiert werden. Historisch informative Abbildungen aus strapaziösen Epochen dürften sogar hinter lyrischem Format zurückstehen. All das würde man durchaus akzeptieren. Aber es begegnen dem Leser dieser Gedichtsammlung stattdessen oft eigenwillig moderne, lobunabhängige, äußerst persönliche und auch geistliche Gedichte, die sich fast immer in einer JETZT-Situation, in einem aktuellen inneren Gespräch befinden. Das hält die Sprache frisch. Man kann Lichtenbergers Anspruch entdecken, nicht allein zur Verarbeitung schwerer Gefühle zu schreiben, sondern aus Zuneigung zum künstlerischen Gedicht.
Aber – was ist schon ein Gedicht! Mit genau diesem Gedanken hat sich Sigrid Lichtenberger nach eigenen Aussagen ausgiebig befasst. Und nun das Beste der vielen Gedichte. Diese Auswahl traf die Autorin selbst. Ironie, Absurdität oder betonte Sinnlichkeit wird man in ihren Zeilen nicht finden, wohl aber gelehrtes Denken und eine disziplinierte, klare Sprache, die sich zu behaupten und selbst zu ermutigen weiß: „Ich richte mich, sprach der Mensch, ich richte mich jetzt auf“.
Trotz etlicher politischer Wandel, gewaltiger technischer Neuerungen, wird man in ihren Gedichten famos wenig an Meilensteinen der Geschichte erfahren, wohl aber das Erleben von Krieg und Altwerden, Familie, Naturbeobachtung und Literaturbeschäftigung. Ihre Sprache zeugt von einem im positiven Sinne subjektiven, durchaus weiblichen Stil. In Lichtenbergers Worten spiegelt sich eine unverstellte Persönlichkeit wieder, leichtes Spiel mit dem Wort und unterlassene Spitzfindigkeiten. Lichtenberger lässt das bewusste Boykottieren einer reißenden Pointe wiederentdecken. Es prasseln Entschiedenheit, eine Form der Demut, gebildeter Duktus und eine trotzige Werte-Konstante manchmal regelrecht aufgeregt von den Seiten herab.
Ihre Gedichte können aber auch beruhigen. Sie sind gewaltfrei, aber lassen Gewalt erkennen. Sie entblößen nicht. Diese Lyrik kann über die Zeit Verwirrte wieder Sammlung finden lassen. Vielleicht hielt das Schreiben die Autorin elastisch in Zeiten der Anspannung. Taucht man in eine Verschwisterung ein, erklingen die Verse reflektiert, zart, durchdacht, und kommen manchmal wie das Mahnen einer freundlichen, aber bestimmten Mutter zum Leser hinüber. Der Gedichtband braucht unbedingt Leser, die noch mit Neugier auf Bibelworte reagieren und um den Schatz des Glaubens wissen. Lichtenberger klopft aufrichtig und zugleich unambitioniert mit „Gottes Wort“ an. Sie machte es sich zum Gewinn, von geistlicher Literatur beeinflusst zu sein. Denn das Bibelwort ist keine Harmlosigkeit. Dort geht es auch um Widersprüche, Entschiedenheit, Aufruhr, intensive Berührung und Angriff auf das Wohlgefühl.
Lichtenbergers Gedichte lassen eher Beobachtung und Einladung hören. Sie entstammen einer Menschenfreundin, sind als Trost und „Strohhalm“ gedacht, analytisch und durchaus pädagogisch geprägt, und manches erinnert zart an Originale des Evangeliums:
„Nehmt meine Worte
Ich breite sie vor Euch aus
Werfe sie Euch zu
Fangt meine Worte auf …….“
Sigrid Lichtenberger überschreitet nie literarisch oder sprachlich Grenzen. Lichtenberger unterschreitet. Man kann es als bewussten Ansatz verstehen. Eine gewollte Schlichtheit. Geradheit. Hier liegt ein Geheimnis dieses BEST OF Bandes 2016.
„Wenn jemand käme
der deine Sprache übersetzte an mein Ufer
könnten sie einkehren bei mir ……“
Interessanterweise kam ein paar Monate vor ihrem Tod 2016 eine Lesereise nach Leipzig zustande. Lichtenberger war gemeinsam mit ihrer ebenfalls schriftstellerisch tätigen Tochter Gast der GZL-Reihe ZWIE SPRACHE und besuchte noch einmal ihre Geburtsstadt und bekam bestätigende Anerkennung als Autorin.
Sigrid Lichtenberger hat durchaus ihren Anspruch beim Lesen und Schreiben:
Das Wort entzündet unsere Sehnsucht
Trägt sie ins Überall
Möchte den Schleier der Banalität heben
Für eine Autorin, die in den Aufbrüchen der Zwanzigerjahre des zwanzigsten Jahrhunderts geboren wurde, waren ihre Gedichte und die Gedichte anderer Schriftsteller der Strohhalm per se – das Sprachmittel, durch das sie Kraft zum Leben saugte. Sie rettete sich in unguten Zeiten vor dem Untergang mit Hilfe von Lyrik und Gedankengedichten. Das findet Gleichgesinnte.
: „… schließlich, und erst jetzt, entdecke ich auf meinem Kleiderschrank auch noch Fächer voller Texte. Übers Schreiben! Gedanken zu Gedichten von Schriftstellern und dazwischen meine eigenen Gedichte.“ (Vorgedanken S Lichtenberger zum Lyrikband)
© Mayjia Gille
Sigrid Lichtenberger, Manchmal ist ein Strohhalm viel. Gedichte
Pendragon Verlag (1. September 2016), 144 Seiten
Deutsch, ISBN 978-3865325655