Matthias C. Hänselmann: Meinungen

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Mai 2023 – Empfehlung des Monats von Sönke Zander

Matthias C. Hänselmann: Meinungen

Mai 2023 – Empfehlung des Monats von Sönke Zander

Der Medienforscher und Künstler, Germanist, Editor, Kurzfilmmacher M.C.Hänselmann legt uns hier einen kleinen, in mehrfacher Hinsicht erstaunlichen Gedichband vor.

Das Erstaunen beginnt schon beim Untertitel „Gebrauchstexte“. Welcher zeitgenössische Lyriker gibt sich schon mit Gebrauchstexten ab? Das klingt ja nach Reimereien anlässlich von Jubiläen und Betriebsfeiern. Bei Hänselmann geht es nicht um Jubiläen, sondern – neben anderem – um „Meinungen“. Die sind nun in der Tat ein enorm wichtiges Thema, da sie zu den entscheidenden Kräften gehören, die bewirken, ob auf unserer fragilen Welt die richtigen oder die falschen Entscheidungen getroffen werden. Hänselmann lädt uns ein, verführt uns manchmal geradezu hinterlistig dazu, seine Gebrauchstexte dazu zu gebrauchen, um die zurzeit kursierenden Meinungen – einschließlich unserer eigenen – zu analysieren, zu verstehen, was hinter ihnen steckt, und zu bewerten. Dabei bedient er sich der verschiedensten sprachkommunikativen Mittel von Ironie und Witz, rationalem und emotionalem Appell, krassem Realismus, absurder Logik bis hin zur lyrischen Schocktherapie.

Er scheut sich auch nicht, seine Gebrauchstexte zu handfesten Gebrauchsanweisungen, lapidaren Sentenzen zu komprimieren, z.B. „… man kann nur anfangen, man selbst zu sein, und diesen Auftrag muss man eben lösen durch ‚ja‘ und ein hübsch unbequemes ’nein‘.“) Dass ein Lyriker sich traut, weit über hundert Jahre nach Etablierung der „modernen Lyrik“ wieder Sentenzen zu schreiben, noch dazu solche mit durchaus moralischer Tendenz, ist eine weitere Überraschung, die dieser Gedichtband uns bereitet.

Sie ermuntern uns, nicht in Apathie und Indolenz zu verfallen, Stellung zu beziehen, solidarisch und zugleich wir selbst zu sein, wirklich zu leben und – das scheint mir der Kern der Sache zu sein – von unserer Fähigkeit zur Vernunft Gebrauch zu machen. Und damit ist der immer mit moralisch-politischem Inhalt gefüllte Vernunftbegriff der Aufklärung gemeint, nicht die „instrumentelle Vernunft“ des technologisch-kapitalistischen Zeitalters, die Horkheimer seinerzeit von jenem unterschieden hat.

Hänselmanns Texte sind vieles, manchmal auch einfach nur schöne, auf eine unsentimentale Weise melancholische Lyrik. Aber eines sind sie nie: öde Zeigefingermoral, schlechte Gedichte. Sie sind auch ganz und gar „von heute“, sowohl sprachlich als auch stilistisch, vor allem aber inhaltlich. Und daran ändert auch die Tatsache nichts, dass sie gereimt sind. Der Autor erklärt uns die Funktion des Reimes gleich zu Anfang: „Zu leeren Phrasen leimt man solang Wort an Wort, bis man in Phrasen denkt – doch wenn man es dann reimt, bemerkt man es sofort.“ (01.2) Mit dieser fokussierenden und verdichtenden Funktion fördern seine Reime zugleich die präzise Lakonie seiner Sprache.

Hänselmanns Verse sind eine frische, neue (aber was heißt schon neu ?) Farbe in der Lyrik. Ich würde gern mehr davon lesen.

Matthias C. Hänselmann

„Meinungen und Gebrauchtexte in Versen mit Reim

Geest-Verlag Visbek 2023

ISBN 978-3-86685-926-5

88 Seiten, 12 Euro