Empfehlungen des Monats September 2024

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Empfehlung des Monats September 2024 von Florian Vetsch:
Christoph Kleinhubbert: Mondlandung

Ein unglaublich gutes Vorwort des Schriftstellers Florian Vetsch für den Gedichtband von Christoph Kleinhubbert mit den Collagen von Boris Kerenski soll neugierig machen, um diese Empfehlung wahrzunehmen, das Buch zu lesen. An die Mondlandung erinnert man sich noch heute, auch Christoph Kleinhubbert nähert sich mit seinen Gedichten wieder dem Thema, dass ihn, Kind noch, vorm Fernseher in Bann schlug. Gehen wir also zurück mit unseren Erinnerungen in diese Zeit, zu der Florian Vetsch schreibt:

DELTA-BLUES MIT KÜHLEN SCHNITTEN

Als in der Nacht vom 20. Juli 1969 Neil Armstrong und Buzz Aldrich von der Apollo 11 ihren Fuß auf den Mond setzten, schauten mein Vater, meine Mutter, meine Geschwister und ich am Schwarzweiß-Fernseher zu. Der Fernseher stand in dem Ferienhaus, das wir bis zum Tod meines Vaters immer während der Sommerferien besuchten, in Fidaz, einem kleinen Dorf am Flimserstein. In dieser Nacht traten mein Vater und ich immer mal wieder hinaus vors Haus und schauten zum Mond hinauf, schauten durch den Fernstecher, als ließe sich etwas erkennen, setzten uns dann wieder vor den Fernseher, gebannt von der technischen Leistung. Es war eine sternklare Nacht, wenige Wolken flockten am Himmel über den Bündner Bergen. Was taten wir wohl am Tag danach? Vielleicht stiegen wir in die Berge, um irgendwo eine Bratwurst übers Feuer zu halten, Silbermänteli zu sammeln, oder wir gingen im immergrünen Caumasee baden. Ich zählte neun Jahre, Winnetou, D‘Artagnan und Huckleberry Finn waren meine Helden. Mit meinem Vater, der SP-Politiker war und als Funkersoldat im Zweiten Weltkrieg an der Schweizer Grenze gestanden hatte, sprachen wir oft über das Dritte Reich und den Holocaust, den Rassismus in den USA, den Tod von JFK und den von Martin Luther King …

Meine idyllischen Erinnerungen konterkarieren Christoph Kleinhubberts brutale Verse aus seinem Gedicht Alte Köpfe Historische Figuren:

Zerstreuung an Sonntagen Ihnen fehlte / Jede Neugier aufs Leben Im

Juli 69 setzte Armstrong als / Erster Mensch seinen Fuß auf

Den Mond tat auf dem / Erdtrabanten einen ersten Schritt Sie

Machten weiter wie bisher Bestraften / Mein Fleisch mit einem Gürtel

Wenn ich wieder böse war / Der Hund der Hundsfott der

Deivel der schrie der Vater / Und schlug zu Lernen soll

Er lernen lernen und nochmals / Lernen Man lernt fürs Leben

Das sind Nachrichten aus dem Ruhrpott mitten im »D-Dur-Bluesland«, wie Rolf Dieter Brinkmann Deutschland einmal nannte. Es ist ein schwerer stahlgetränkter Delta-Blues, den Christoph Kleinhubbert (*1962) anschlägt, genauer der Blues aus dem Escher Delta, gelegen zwischen Duisburg und Dinslaken. Traumata belasten den Alltag, Schatten wirken nach. Depressionen schlagen sich breit. Unausgesprochenes, Unaufgearbeitetes schwelt. Es herrscht dicke Luft.

Das Vater-Sohn-Verhältnis der Nachkriegszeit, das für Kleinhubberts Gedichtsammlung konstitutiv ist, hat Wolf Pehlke in seinem Buch One Trip Pony so beschrieben: »Der Krieg hat alles und jeden zum Krüppel gemacht. / Die Väter haben gelernt zu töten und wegzuschauen. Ihre Söhne waren, genauer betrachtet, eine Sache. In den Augen der Nachkriegsgeschichte waren sie eine Anschaffung. Sie waren ein Gegenstand. Wie der neue Fernseher, ein abschließbares Möbelstück, im bürgerlichen Wohnzimmer mit den weichen und leisen Hakenkreuzteppichen. Wie der Spaten im Garten, der die Beete in Reihen zieht und nicht gewusst haben will, wie viele vergast worden sind. Wie das weiß gestrichene Haus, das Lüge um Lüge versteckt. Die Söhne waren der Beweis für die Rückkehr der Überlebenden aus dem Krieg. Kinder, die wiedergutmachen sollten, was geschehen war und worüber in der Familie nicht gesprochen wurde.«

Im titelgebenden Gedicht Mondlandung erzählt Kleinhubbert:

(…) Kurz

Nach der Einschulung / Kriegte ich eine

Hornbrille mit dicken / Gläsern Fünf Tage

Vor meinem siebten / Geburtstag betraten Armstrong

Und Aldrich den / Mond Damals war

Ich meiner Vergangenheit / Näher als heute

Zeit ist ein großes Thema in diesen Gedichten. Zeit, was sie mit uns macht und was wir in ihr machen. Zeit, wie die Allverschlingerin schlingert, Schleifen zieht, sich ausdehnt und zusammenzieht. Wie sie Narben, Schorf zurücklässt, uns vom Ursprung entfernt, uns zerstreut und zeichnet. Zeit, wie sie sich in Erinnerungen kristallisiert, die sich wandeln, die verblassen, verwehen …

Du sagst / Erinnerst du

Dich Alle / Sind gegangen

Sie sind / Fort so

Spurlos als / Hätte der

Wind sie / Mit sich

Genommen und / In die

Ferne verteilt

Christoph Kleinhubbert verwendet in den Gedichten dieser Sammlung konsequent den Schrägstrich – den Slash –, die Virgel, die wir aus der barocken Poesie kennen, aus der Zeit des Dreißigjährigen Krieges. Doch der Poet folgt nicht dem metrischen Schema des barocken Alexandriners. Links und rechts von der Virgel setzt er ein variables identisches Quantum an Wörtern. Auf Satzzeichen verzichtet er. Er setzt Satzanfänge auch mitten im Vers einfach groß, Majuskeln stehen auch konsequent am Versanfang und direkt nach der Virgel. All seine Verse weisen denn eine Zäsur auf, einen Schnitt, nicht nur an ihrem Ende, sondern auch in ihrer Mitte.

Schnitte bietet auch Boris Kerenski (*1971): Er legte zu des Dichters Arbeiten rund zwanzig farbige Collagen dazu, die das Auge anziehen, unterhalten und nähren. Dabei erweist er sich als versierter Cutter, der seine Motive und gestalterischen Elemente sowohl assoziativ anzuordnen als auch dissoziativ aufzulösen weiß. Als Referenzpunkte tauchen Dada, Surrealismus, Pop-Art, Beat, zumal Social Beat, auf, die Postmoderne, dann Science-Fiction, die Fashion World und die Filmgeschichte: In den Collagen des Schnittmeisters Kerenski breitet sich ein diverses, vielschichtiges, ein bisweilen erotisch aufgeladenes, mitunter abgründiges, dann wieder humorig aberwitziges Universum aus.

Auch Karl Marx redet da ein Wort mit. Mit ihm kommt Hegels Schatten in den Raum, denn Marx stellte bekanntlich dessen dialektischen Idealismus in der Mitte des 19. Jahrhunderts vom Kopf auf die Füße. Von Hegel könnte auch Kerenski gelernt haben, wenn wir etwa in der Phänomenologie des Geistes (1806/07) über den Prozess des Denkens und Schaffens erfahren: »Die Tätigkeit des Scheidens ist die Kraft und Arbeit des Verstandes, der verwundersamsten und größten, oder vielmehr der absoluten Macht. Der Kreis, der in sich geschlossen ruht und als Substanz seine Momente hält, ist das unmittelbare und darum nicht verwundersame Verhältnis. Aber dass das von seinem Umfange getrennte Akzidentelle als solches, das Gebundene und nur in seinem Zusammenhange mit anderem Wirkliche, ein eigenes Dasein und abgesonderte Freiheit gewinnt, ist die ungeheure Macht des Negativen; es ist die Energie des Denkens, des reinen Ichs. Der Tod, wenn wir jene Unwirklichkeit so nennen wollen, ist das Furchtbarste, und das Tote festzuhalten das, was die größte Kraft erfordert. Die kraftlose Schönheit hasst den Verstand, weil er ihr dies zumutet, was sie nicht vermag. Aber nicht das Leben, das sich vor dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, sondern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der absoluten Zerrissenheit sich selbst findet. Diese Macht ist er nicht als das Positive, welches von dem Negativen wegsieht, wie wenn wir von etwas sagen, dies ist nichts oder falsch, und nun, damit fertig, davon weg zu irgendetwas anderem übergehen; sondern er ist diese Macht nur, indem er dem Negativen ins Angesicht schaut, bei ihm verweilt. Dieses Verweilen ist die Zauberkraft, die es in das Sein umkehrt.«

Von dieser schöpferischen »Zauberkraft« legen auch Boris Kerenskis Arbeiten Zeugnis ab. Aber auch Christoph Kleinhubberts Gedichte, so wenn es einmal von den »Worten der Liebe« in ihnen heißt, sie seien

Stark und unverletzlich so als / Seien sie getaucht in Drachenblut

Oder wenn der Dichter festhält:

Was war / Werde ich

Nun hinter / Mir lassen

Meine Geschichte / Bleibt sicher

Aufbewahrt in / Verfallender Landschaft

Nun können wir seine Geschichte lesen.

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Christoph Kleinhubbert:
Mondlandung

Broschur, 190 S., 17,50 €
ISBN 978-3-910431-23-2
Moloko Print, 2024

Kontaktadresse des Autors: ck-presswurst@mail.de