Empfehlung des Monats Juni 2024 von Steffen Marciniak:
Cornelia Becker: Rückkehr der Hornhechte
kein fadenende wenn die spinne webt
Wie genießt man am liebsten die Lektüre eines Gedichtbands? Bei den Menschen wird das unterschiedlich sein, doch die meisten suchen sich vermutlich einen bequemen Ort, etwa einen Schaukelstuhl, wippen hin und her, lassen die Beine baumeln und greifen zum Buch. Die eigenen Gedanken, so verstreut sie sich zuvor im Raum bewegten, hier und jetzt möchten sie sich sammeln. Man sucht die Harmonie, obwohl man weiß, dass sie ein flüchtiger Luftgeist ist. Denn sonst würde man es ja kaum wagen, ausgerechnet Lyrik zu lesen. Insbesondere trifft das auf bisher noch nie gelesene Dichter zu. Man betritt eine unentdeckte bzw. nur von sehr wenigen erkundete Insel. Ich meine, die Lyrik guter Dichter ist immer eine Insel, viele dieser Inseln sind recht einsam. Wer es dennoch versucht, der muss nur die ruhige Seite hinauf finden, nicht auf der Sturmseite. Findet man im Schaukelstuhl den Zugang? Einlassen wollen die meisten Dichter den Leser ja schon, nur ist es zweifelhaft, dass einer der schaukelt, sich wirklich aufmacht, den Gedichtband mit Herz und Seele zu erkunden. Immer ist etwas Abenteurertum nötig, Sicherheit gibt es nur die, die man im Geschäft ein wenig anliest. Zumeist wird man überrascht, dafür braucht man mehr als ein Anlesen.
Einen solchen Schaukelstuhlzugang findet man bei Cornelia Becker nicht. Wird und will sie uns geben, was viele erhoffen, wenn sie das Buch aufschlagen, ohne zu ahnen, dass sie genau das sich vielleicht nicht wünschen.
Die Dichterin geht forsch heran und zieht gleich im ersten Gedicht der Harmonie schon mal genüsslich den Boden weg, und erreicht damit das zuletzt Genannte:
es fällt die welt ohne unterlass
leise gleitet sie
ein tropfen vom blatt …
… nimmt mit sich tisch bett stuhl
nimmt mit sich stimmen sinn und saum
wir schweben mit ihr …
Das ist ja wunderbar. Der ganze gedachte Anfang um Schaukelstuhl und Harmonie ist hier schon weggenommen. Sofort ist der Lyrikkenner froh, dass es so ist, der Kauf hat sich gelohnt. Von nun an liest man gespannt weiter, scheut weder Sturm noch Idylle, ist erfreut, dass es der Autorin gelingt, uns zu packen, neugierig weiterlesen, erwartungsvoll ein Gedicht nach dem anderen zu warten. Sich bezähmen nicht schon immer mal vorzublättern und dort zu lesen. Gedichtbände sind ja die einzigen Bücher, die man auch von hinten nach vorn zu lesen zu können glaubt. Das empfehle ich hier und meistens nicht. Der Band ist gut komponiert.
Im zweiten Gedicht „Vernetzung“ erwartet man ob des Titels vielleicht nun wenigstens ein Netz, zwar durchlässig, aber eben doch eines mit Halt.
kein satzanfang
irgendwo mittendrin
aus worten fäden gezogen
ums handgelenk gewickelt
mitgenommen …
Mitgenommen, wie schön, also doch …, aber auch hier irre man sich besser nicht, denn kaum ist man ins netz gegangen, hat man das
… das lachen der spinne gehört …
und sieht
… kein fadenende wenn die spinne webt
Die 1957 in Paderborn geborene und mit ihrer Familie in Berlin lebende Cornelia Becker legt (erst jetzt) mit „Rückkehr der Hornhechte“ ihr Lyrikdebüt vor. Bislang war sie mit Romanen und Erzählungen bekannt geworden. Im sehr rührigen und unbedingte Beachtung verdienenden Berliner Verlag PalmArtPress, den man ob seiner hohen Qualität und Programmvielfalt nur rühmen und bewundern kann, liegt von Becker bereits ein Roman vor, „Nächte der Füchsin“; die „Suche nach der eigenen Identität zwischen zwei Kulturen, eine Auseinandersetzung mit der spanischen Geschichte unter Franco. Eine Hommage an die ersten spanischen, sogenannten Gastarbeiter“.
In ihrem dritten Gedicht „Geburt der Dichterin“ deuten sich Bezugspunkte Beckers an, und eine einschneidende Begegnung. Man spürt, wie aus der Schriftstellerin Becker mit ihrem Lyrikdebüt auch eine Poetin wird. Wie viel Freude es ihr bereitet, nein, etwas zarter, Hingabe und zugleich eine Leidenschaft, die oft eher malt, wie der Einbandumschlag es surreal andeutet, als das sie schreit. Und doch ist gerade dieses dritte Gedicht eine kämpferische Stellungnahme für eine Dichterin, der sie es widmet: May Ayim (1960-96), eine deutsche Dichterin, Tochter eines Ghanaers und einer Deutschen, die bei Pflegeeltern groß wird. Sie war Aktivistin der afrodeutschen Bewegung, Pionierin der „Kritischen Weißseinsforschung“.
In Beckers „Erinnerungen an May Ayim“ auf S. 29 kehrt die Dichterin zu May Ayim zurück, gibt in einem kurzen Prosatext die Begegnung mit ihr wieder. Wie diese „Erinnerungen an May Ayim“ ist auch der Buchtiteltext „Rückkehr der Hornhechte“ lyrische Prosa, über zweieinhalb Seiten, untertitelt mit „Erinnerungen in Bildern“. In diesem feinen Sprachstil liest man gern Prosa. Sie ist lyrisch, verdichtet, auf den Punkt gebracht und vor allem bildhaft, wie der Untertitel es verspricht.
„Stellenlektüre ist verpönt. Und doch eröffnet die Stelle den Zugang zum Ganzen. Die Stelle ist der Ort, an dem die literarische Erfahrung konkret und von besonderer Intensität wird. So ist es kein Zufall, dass durch die Literaturgeschichte des Abendlands hindurch seit Augustinus die Stelle im Buch auch immer wieder zum Kreuzungspunkt zwischen Literatur und Leben wurde.“, so beschreiben die Literaturwissenschaftler Wolfgang Braungart und Joachim Jacob es in ihrer Schrift „Stellen, schöne Stellen oder: Wo das Verstehen beginnt.“
Seit ich lesen kann, suche ich nach schönen Stellen, ganz unvermeidlich vom ästhetischen Standpunkt. Solche ausnehmend schönen Verse finden sich zu meiner Freude bei Cornelia Becker zuhauf. Man darf schwelgen, sich verlieren, auch ohne das sprichwörtliche Netz vom Anfang, man braucht kein fadenende, man darf dann doch mal auch im Schaukelstuhl im Traum verweilen, genießt sie.
Cornelia Becker schafft eine gelungene Komposition aus Worten und Farben, zwischen Bekenntnis und Beschauen. Ein Beispiel zeigt sich im Gedicht „Blick aus dem Fenster an einem algerischen Winterabend“ auf S. 20:
… stummer regen schägt das pflaster
luftbewegtes gefunkel geflimmer
schwebende schwimmende schimmer
ins wasser gestürzte pfützengesichter …
Menschen, die bildhafte Lyrik lieben, werden begeistert sein. Wer bis S. 36 und 37 noch nicht der Faszination verfallen ist, spätestens mit den Gedichten „Brief an den kleinen Prinz“ und „An eine Freundin“ hat Becker jeden dieser Leser auf ihrer Seite. Kaum zu glauben, dass die Autorin zuvor noch keine Gedichtbände veröffentlicht hat. Das erste Gedicht, hier gleich komplett wiedergegeben, verstehe ich als eine Liebe an etwas Erinnertes, an ein Kindheitsgefühl, an etwas, dass man sich immer wieder an den Ort des eigenen Wesens holen will, in der die verträumten Sehnsüchte wohnen:
sanft berühre ich dich
streichel dich wie
das papier unter meiner hand
zeichen für zeichen setze ich
spüre deine kühle haut
dein körper so nah so fern
Und mit dem „Kleinen Prinzen“ teilt Becker ja eine Leseerfahrung vieler. In „An eine Freundin“ (hier: die letzten vier Verse notiert) wird sie sehr viel konkreter, und spricht statt eines Prinzen eine wohl reale Person an:
… honigfarben leuchten deine Augen
und aus dem Mund
steigt dein Taubenlachen
ins Zilpzalp der Augusthitze hinauf
In der Folge wird Cornelia Becker oft deutlich konkreter, streut aber auch mal ein Haiku ein. das 2. und gerade auch im 3., dem Schlusskapitel kommt Liebeslyrik, ja Libidolyrik vor. Becker beschreitet einen Weg von der Sehnsucht zur Leidenschaft was sich auch immer mal wieder umgekehrt. Als Beispiel diene das vorletzte Gedicht auf S. 99:
… lass uns spielen
ja spielen wir
am waldrand reiße ich dir die kleider vom leib
schleppe dich zwischen zwei baumriesen
meine zunge schreibt dunkles in deine hüften
während ich dein geschlecht berühre
schäle ich deine hautrinde ab …
Genau 100 Seiten aufregender Lyrik. Eine wirkliche Empfehlung.
Cornelia Becker:
Rückkehr der Hornhechte
Hardcover,100 S., 22,00 €
ISBN 978-3-96258-151-0
PalmArtPress, Berlin 2023