Anton G. Leitner (Hrsg.): Pausenpoesie. Gedichte zum Neustarten
Anton G. Leitner: Schnablgwax. Bairisches Verskabarett
Lyrik-Empfehlung des Monats · Oktober 2016
Warten, bis ich weiß worauf
Gemeinsam hatten Anton G. Leitner (Herausgeber der Zeitschrift „Das Gedicht“) und Christian Düfel (Projektbüro Lutherdekade/Reformationsjubiläum 2017 der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern) im Jahr 2015 Lyrikerinnen und Lyriker zu einem Anthologie-Projekt unter dem Motto „Reformatio |Reset – Pausenpoesie zum Neustarten“ eingeladen. 80 zeitgenössische Dichterinnen und Dichter aus zwölf Nationen sind diesem Aufruf gefolgt und haben einhundert Gedichte rund ums Innehalten und Neustarten geschrieben, die vom 21. März – 28. Juni 2015 mit täglich einem Gedicht auf www.luther2017-bayern.de, www.luther2017.de und auf www.dasgdichtblog.de veröffentlicht wurden und nun auch gedruckt als Buch vorliegen.
Die versammelten Dichterinnen und Dichter haben die unterschiedlichsten Gedichte verfasst, welche schon durch ihre breitgefächerte Vielfalt imponieren und zeigen, was die Arbeit mit Worten und am Wort für Kleinods hervorbringen, bzw. hervorzaubern kann.
Jedes der Gedichte besticht durch seinen eigenen Stil, kommt mal gereimt oder in freien Versen, mit oder ohne Interpunktion, daher, ist mal klein geschrieben oder findet sich, den Regeln der neuen deutschen Rechtschreibung folgend, mit ausgeprägtem Sinn für die Poesie gedruckt auf Papier. Jedes dieser Gedichte beinhaltet die Beobachtungen und Eindrücke und die persönlichen Gedanken ihrer Verfasser, Wortpoeten, wie auch Martin Luther einer gewesen ist, der durch die Übersetzung der Bibel aus dem Hebräischen und Griechischen ins Deutsche nicht nur Glauben und Religion, sondern auch die Sprache prägend beeinflusst hat, wie Anton G. Leitner und Christian Düfel in ihrem Vorwort schreiben.
Die versammelten Dichterinnen und Dichter nähern sich dem vorgegebenen Thema alle auf ihre eigene, unverwechselbare Art und Weise. Sie politisieren, polemisieren, lästern, spötteln, beziehen Position. Sie hadern, lassen Luft ab, witzeln oder sind ernst, provozieren oder nehmen sich scheu zurück.
Sie lästern über Technik, Umweltzerstörung, den lieblosen Umgang mit Mensch und Natur, der sie ihr persönliches Denkmal in Worten errichten, die sich in Herz und Kopf einprägen. Sie kommen auf eigensinnige Ideen, eigenwillig wie ihre Träume, als beabsichtigten sie, die Welt neu zu erfinden.
Sie kommunizieren mit Künftigem und Gewesenem, mit Zukunft und Vergangenheit, mit Landschaften, Bäumen und Vögeln, mit den Möglichkeiten der Metamorphose. Sie versuchen, sich ihrer selbst zu versichern, stellen ungläubige Fragen, um manchmal verwundert Glaubensantworten zu finden.
Sie drücken sich nicht um die Frage nach Gott, haben ihre persönliche Meinung dazu, ringen mit sich und den Religionen weltweit.
Sie schreiben Liebesgedichte und beschäftigen sich mit Sterben und Tod, reisen, kriseln, mit mancher Weisheit am Ende, um euphorisch eine neue zu kreieren.
Sie schöpfen Mut oder sind verzweifelt, untersuchen das Geflecht von Erde und Welt, sind verwirrt oder weise und, wie mir auffiel, wohltuend selbstironisch im Hier und Jetzt. Manchmal nehmen sie sich die Zeit, wie man sagt, um zu entschleunigen, vielleicht, um ihre Fantasie zu beschleunigen und mit der Einsicht zu stärken, dass Poesie ein Anker ist, wie es Anton G. Leitner formuliert.
Bekannte und weniger bekannte Dichterinnen und Dichter haben in dieser lesenswerten und zum Nachdenken anregenden Anthologie „Pausenpoesie“ zusammengefunden, der viele begeisterte Leser zu wünschen sind mit den Gedichten zum Neustarten.
Stellvertretend für alle möchte ich beispielhaft das Gedicht von Hellmuth Opitz „Madrigal“
anhängen:
Madrigal
Die Kathedrale dieses Wintermorgens betreten,
aufschauen zur Empore schneebestäubter Bäume.
Eiszapfen wie Orgelpfeifen,
der Nordost zieht alle Register.
Mit den Augen Krähen folgen,
den verwischten, flüchtigen Kajal-Strichen ihrer Flüge.
Ein Kopfschmerz füllt diesen Raum aus, klar wie
Die Kopfstimme dieses Sängers, der ein Lied singt,
das nicht im Gesangbuch steht, ein Lied
mit dem Refrain: Oh mein Gott, Charles Darwin.
Die Stimme so hoch, es ist zum Niederknien
Und fragte mich jetzt jemand im Krähenschwarz
des Talars, ob ich ein Glaubender sei,
ich würde sagen: Heute morgen ja.
Michael Starcke
Anton G. Leitner (Hrsg.)
Pausenpoesie. Gedichte zum Neustarten
Mit einem Vorwort von Christian Düfel und Anton G. Leitner
Anton G. Leitner Verlag, Weßling
ISBN 978-3-929433-26-5
se Weisswörst änd se Brezl, Bäibie*
Nach 30 Jahren hochdeutscher Dichtung, in der er sich vor allem durch eine sehr eigenwillige Art des Enjambements einen Namen machte, hat Anton G. Leitner nun seinen ersten Gedichtband in bairischer Mundart vorgelegt. Neben Fitzgerald Kusz mit Gedichten in fränkischer Mundart, häufig in der jährlich erscheinenden Zeitschrift DAS GEDICHT aus dem Anton G. Leitner Verlag vertreten, kenne ich eher plattdeutsch-hochdeutsche Bücher, was sicherlich an meinem nördlich gelegenen Wohnort liegt. Hat Kusz mir schon immer viel Freude bereitet, habe ich an Schnablgwax diebisches Vergnügen. Gar nicht so einfach für eine Hamburger Deern, das bairische Kauderwelsch auseinander zu tüdeln! Im Zuge dieser Bemühungen fange ich also an, laut zu lesen. Laut lesen, das ist ohnehin sehr gut bei Gedichten, und die mundartlichen Versionen laden förmlich dazu ein. Zwar gibt es auch Aufnahmen des Autors, jetzt sogar als Hörbuch, aber Spaß bringt es doch, es selbst zu versuchen. Oft kann man durch lautes Lesen hinter die Bedeutung der wirklich schräg aussehenden Wörter mit vielen Doppelmitlauten kommen. Schaut man dann auf die hochdeutsche Übersetzung, merkt man schnell, dass hier nicht einfach eine Handreichung zum Verständnis vorliegt, sondern dass Leitner auch in der hochdeutschen Variante seine satirische Komponente zu halten vermag. So wird aus „seina Oidn“ seine „Angetraute“ („Da Mezzgamoasda mediddiad“, S. 22/23) und „Gscheid obgschminggd“ wird mit „Psychoanalytische Charakterstudien“ (Überschrift Kapitel III, S. 100/101) übersetzt.
Das Buch ist in drei Kapitel aufgeteilt: I. Diaf einigschaugd (Intime Einblicke), II. Sauwa aufgschbiesd (Investigativer Versreport“ und III. Gscheid obgschminggt. Als Zugaben sind ein Gespräch zwischen Bernhard Setzwein und Anton G. Leitner über das poetische Potenzial der Mundart, ein Beitrag von Richard Dove über Leitners Mundartlyrik sowie Übersetzungen ins Englische, für mich fremd anmutende und daher spannende Schottische und Cockney enthalten. So wird das Buch zu einem mehrsprachigen Erlebnis.
Es zeigt sich, dass Anton G. Leitner vom Kleinen, Persönlichen ins Große, Politische kommt – und da wird niemand geschont, nichts beschönigt, sondern gedichtet, wie man es von einem Buch dieses Titels erwarten darf. Und nicht selten bleibt einem das Lachen im Halse stecken, wenn Leitner „auskemmane Woaddradiggale vom kommunaln Schbrachkontäina“ („Entwichene Wortradikale aus dem kommunalen Sprachcontainer“, S. 88/89) aufführt, die sich mit der Bezeichnung „Flüchdling“ beschäftigen, oder er die „Voiggsvadredda“ (S. 71) aufs Korn nimmt. Anton G. Leitner hält mit nichts hinterm Berg, und diese Offenheit und Position lassen den Lyrik-Band neben der sprachlichen Komponente auch inhaltlich zu einem wichtigen zeitgenössischen Werk werden, das auf provozierende Weise Stellung bezieht; und das längst nicht nur für Bayern. Das polterige Bairisch indes passt gut dazu, aber es gelingt Leitner, die hochdeutsche Variante gleichwertig zu gestalten.
Zurück beim Sprachspiel, wird dieses ganz verrückt, wenn das Bairische dem Englischen begegnet: Sowohl auf Bairisch als auch auf Hochdeutsch versteht Leitner das „Denglish“ zu bringen, und das ist wirklich saukomisch: „Änd oll siss Biadrinking in Hofbräuhaus“/And all this beer drinking in Hofbroyhouse“ (Mjnunigg Seidsiing, S. 104/105).
„Schnablgwax“ mit seiner erzählerischen Komponente – Leitner selbst bezeichnet die Texte als „Gedichtgeschichten“ – eignet sich auch für Leser*innen, die sonst nicht unbedingt zu Gedichten greifen. Ich empfehle es Literaturinteressierten und Menschen, denen es nicht egal ist, was um sie herum geschieht, gleichermaßen.
*“Mjunigg Seidsiing“, S. 105
© Maren Schönfeld, 25.09.2016
Wo d’ Liab hifoid
Oamoi in Himme auffegschaugd
Und mia a scheene Woiggn oglachd.
Dabei glei am Bodn a Naggdschneggn
Dadreedn. Seiddem babbd mei Soin,
Und i schaug nua no auf d‘ Schdrass.
Wo die Liebe hinfällt
Einmal zum Himmel hochgeschaut
und mich in eine schöne Wolke verliebt.
Dabei unten am Boden eine Nacktschnecke
Zertreten. Seitdem klebt meine Sohle,
und ich schaue nur noch auf den Weg.
Anton G. Leitner
„Schnablgwax“, Bairisches Verskabarett
edition DAS GEDICHT, edition lichtung
184 S., geb. Ausgabe € 15,90, e-Book € 9,99