PASSAGEN

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Gedicht des Monats · April 2015

Fritz Rudolf Fries

PASSAGEN

Leipzig, April 1945

Der Ami vor Torgau, der Iwan vor den Seelower
Höhen.
Wir ziehen uns in den Keller zurück,
zu Stangenbohnen in der Weinflasche,
Hühnerbrüste im Einmachglas,
genieße den Krieg, denn der Frieden wird
furchtbar.
Meine Großmutter verliert den Appetit,
als sie die Nachrichten aus Stalingrad liest.
Eine verirrte Fliegerbombe drückt uns das Hausdach
auf die Ohren.
Der Luftschutzwart, früher Kellermeister,
bei Veuve Cliquot,
schiebt uns durch den Spalt
kopulierender Häuser ins Licht
der Mädlerpassage.

 

Leipzig, Mai 2014

Erdbeeren mit Schlagsahne,
durch die Gänge
der Passagen flimmert grau der Krieg der alten Männer.
Genieße den Krieg, denn der Frieden ist
grausam.
Eine Schar von Drohnen,
kleine weiße Friedenstaube,
hält uns die Feinde,
deren Kinder und Kindeskinder vom Leib.
Nie wieder Sozialismus, wir haben
die Wahl zwischen Mallorca und Hindukusch.
der Krieg im Näherrücken
eine Drohgebärde von gestern
in den verramschten Schulbüchern.

 

Leipzig, Oktober 2089

Wir waren das Volk.
Jahresausstellung
bei freiem Eintritt.


© Erben von Fritz Rudolf Fries

Quelle: Poesiealbum neu, 1/2015, „O Freude. Leipzig im Gedicht“