Les Murrays Gedichtsammlung „Aus einem See von Strophen“
Lyrik-Empfehlung des Monats · Juli 2016
Wir erlebten den australischen Dichter Les Murray im Juni 2014 bei einer Freiluftlesung in Leipzig. Es war ein heißer Sommerabend, und Murray trat in Wollpullover und Jogginghosen auf die Lesebühne und verstand, das Publikum mit seinem australischen Englisch, seinem slang-haften und eher kargen Vortrag zu beeindrucken.
Begleitet wurde er von seiner Verlegerin und Übersetzerin Margitt Lehbert, die die ausgewählten Gedichte auf deutsch las. Anlass war die Premiere seiner Gedichtsammlung „Aus einem See von Strophen“ in der Edition Rugerup. Der Band vereint 100 ins Deutsche übertragene Gedichte, die Murray in Zusammenarbeit mit Margitt Lehbert selbst ausgewählt hat. Angeregt von dieser Arbeit hat Murray wenig später die Originale in gleicher Folge in seinem Heimatland veröffentlicht.
Für jemanden, der das Werk Les Murrays (noch) nicht kennt, stellt der Band einen idealen Einstieg dar. Margitt Lehbert hat ihre frühen Übertragungen speziell für diese Ausgabe überarbeitet. Aufgrund ihres engen Verhältnisses zu ihrem Autor, konnte sich die Nachdichterin auf Murrays Farm in Bunyah quasi „in Klausur“ begeben. Auch für Kenner und Sammler des Werkes des australischen Lyrikers ist dieser Band lohnenswert, handelt es sich doch bei einem Viertel der Texte um deutsche Erstveröffentlichungen.
„Zugänglichkeit und Verständlichkeit“ sind laut Murray die wichtigsten Eigenschaften seiner Dichtung. Überraschung oder besser gesagt: Erschütterung wäre als dritte wichtige Kategorie von Murrays Poetik zu nennen. Und als viertes Merkmal sei Vielfalt genannt. Das gilt sowohl für die Form, die vom Zweizeiler bis zum Mehrseiter reicht, als auch für den Inhalt, wie es Thomas Poiss in seinem kenntnisreichen Nachwort formuliert: „Thematisch läßt sich Murrays Kunst […] nicht eingrenzen: Sie erfaßt uneingeschränkt alles, worüber sich überhaupt dichten läßt, wobei allenfalls Australien einen geräumigen Sonderplatz unter den Gegenständen einnimmt.“ Murray ist empathischer Naturbeobachter, heiterer Philosoph, skurriler Entdecker, profunder Historiker und ausdauernder Gedichtgeschichtenerzähler in einem. Jeder Gegenstand ist ihm recht, und jedem vermag er in seiner Lyrik gerecht zu werden, das führt von der sprichwörtlichen Welt in der Nußschale (wie das Beispiel zeigt) über den Blick zurück auf Kindheit und Pubertät, zu den „Kühe[n] am Schlachttag“ (unter die sich das lyrische Ich einreiht), bis hin zur intimen Reflektion von Lektüre.
Seit langem wird Les Murray als Kandidat für den Literaturnobelpreis gehandelt. Sein russisch-US-amerikanischer Freund und Kollege Joseph Brodsky nannte ihn einmal einen „Mann, in dem die Sprache lebt“. Wie sprach-lebhaft Murray dies in seinen Büchern festzuhalten vermag, verdeutlicht gerade diese Best-of-Auswahl.
Synke Vollring und Ralph Grüneberger
*Zitat aus einem Interview mit der Leipziger Volkszeitung vom 06.06.2014 auf die Frage, ob Les Murray „sich auch einmal an einem Roman versucht“ hätte.
Les Murray
Kreisförmige Illumination
Was hast Du in der Walnuß gesehen?
Pferde, kreuz und quer rot angeschirrt,
und einen Soldaten, der den Abspann
seines Films wie Ordensbänder trug.
Ein Ei darin, das eine Speisekammer baute,
hielt sich in seinen eigenen Händen hoch –
dann zogen rote Riemen die Nuß zu.
Quelle: „Aus einem See von Strophen. Hundert ausgewählte Gedichte“,
übertragen aus dem australischen Englisch von Margitt Lehbert,
Edition Rugerup, Berlin / Hörby 2014,
ISBN 978-3-942955-39-3