Sigune Schnabel: „Die Zeit hat ihre Farbe verloren“

Oktober 2023 – Empfehlung des Monats von Markus Manfred Jung

Sigune Schnabel: „Die Zeit hat ihre Farbe verloren“

Oktober 2023 – Empfehlung des Monats von Markus Manfred Jung

Sigune Schnabel, 1981 in Filderstadt bei Stuttgart geboren, ist studierte Literaturübersetzerin und lebt in Düsseldorf. Sie wurde für ihre Gedichte mehrfach ausgezeichnet. Wie schon im Titel ihres vierten Gedichtbandes angedeutet, verbindet die Autorin in ihren originellen Sprach-Bildern Elemente verschiedener Welten, kombiniert zum Beispiel Abstraktes mit Konkretem, ohne dabei verstörend Fremdes hervorzurufen. Auch wenn die Bilder originell und überraschend sind, verliert man doch nicht den Assoziationsfaden und wird sachte in eine eigene poetische Welt geführt. Erstaunlicherweise fühlt man sich dort sehr wohl. Alle Sinne werden gleichermaßen angeregt, vor allem wenn man sich Sigune Schnabels Gedichte selber vorliest. Farbräume, Klangbilder und Geruchsassoziationen entstehen synästhetisch. Das Gefühl wird wie ein weiterer Sinn angesprochen, ohne dass der Verstand ausgeschaltet werden muss. Ein klarer Sprachduktus mildert das zuweilen emphatisch Aufwallende. Und so so berühren einen die Texte und nehmen einen unaufdringlich an der Hand. Wenn man nur einmal einige Kapitelüberschriften aneinander reiht, wird schon der geheimnisvolle und anregende Sprachreiz deutlich: „Kindheit – Ich mähe mein Blütenkleid – Ich habe die Niederlagen zwischen Krokusse gesät – Trägt jeder Körper eine Spur Verwegenheit – Am Winter vertäut – Und die Menschen ließen Städte regnen“. Gefühl und Verstand werden gleichermaßen angeregt.

Bemessung der Fluchtpunkte

Wieder hast du die Haut zerkratzt,

die den Montag schützt.

Jetzt rinnt er schmerzverzerrt

von der Zunge.

Jemand legt Bojen

in unseren Schlaf.

Sie leiten uns in den frühen Morgen.

Wir tauschen uns aus

und stehen von Neuem auf.

Ein Kleiber klopft draußen

ein Loch in die Nacht.

Illustriert ist der Gedichtband durch neun Bilder von Marianne Behechti, die farbenfroh in ihrer abstrakten Komposition andeutungsweise auch immer Konkretes durchscheinen lassen.