Empfehlungen des Monats · August 2021
von Marianne Beese
Die Anordnung der Texte der Anthologie folgt einer Chronologie, orientiert sich, außer bei dem Auftaktgedicht Thomas Rosenlöchers, an den Daten der jeweiligen Aufenthalte der Stipendiaten in Schloss Wiepersdorf. Gemäß diesem Prinzip entsteht auch eine Art Chronik voranschreitender und sich wandelnder Zeit – die anfangs, wie in dem Text Volker Brauns, noch von der „Wende“ handelt, um sich dann immer weiter von diesem Ereignis, das gleichwohl in seinen Folgen und Konsequenzen anwesend bleibt, zu entfernen – bis ins Jahr 2018 hinein. Von Bedeutung ist auch, dass die Autor/innen sowohl aus ‚Ost‘ als auch aus ‚West‘ (einschließlich Österreich) kommen und diese unterschiedliche Herkunft und entsprechende Sicht einbringen. Abgesehen davon erweist sich ihre poetische Erlebnisweise und künstlerische Handschrift als verschiedenartig. Dennoch gibt es viele thematische Gemeinsamkeiten, zumal sich alle am gleichen Aufenthaltsort befanden.
Schloss Wiepersdorf und Umgebung, modifiziert durch den Wandel der Jahreszeiten, spielen in den Texten der Schreibenden denn auch eine entscheidende Rolle. Die Stipendiaten umkreisen gleichsam das Terrain; sie ‚ertasten‘, was für sie wichtig ist, nehmen Fühlung auf mit dem Ringsum. Immer wieder rückt das Schloss selbst, rücken der Park, die teils aufgestellten, teils in Verwahrung genommenen Götter-Statuen ins Blickfeld, werden diese, poetisch verfremdet, zum Dichtungsgegenstand. Mythologisches wird aus heutiger Sicht ‚durchgespielt‘; besonders intensiv bei Arnfried Astel, doch etwa auch bei Franzobel.
Erinnern die Statuen, wie das Schloss und dessen Aura, an die einstigen Besitzer, die Arnims, so setzt sich eine Reihe von Wiepersdorf-Gästen, darunter Ruth Johanna Benrath, Michael Krüger oder Reinhard Krehl, schreibend mit diesen in Beziehung.
Bedeutsam wird die Historie an sich, werden deren Spuren nicht nur in Wiepersdorf selbst, sondern auch in den Orten des Umlands. So erscheinen alte Kirchen und Friedhöfe, wie vor allem der zwischen Meinsdorf und Kossin, als Stätten bewahrter Vergangenheit, die von den heutigen Dichtern, darunter Ralph Grüneberger, bewusst wahrgenommen werden.
Dass frühere Geschichtsphasen gleichsam durch den Boden der Gegenwart schimmern, schlägt sich in weiteren Texten, so denen Jürgen Beckers, nieder. Diese rufen Assoziationen an (Nach-) Krieg und Flucht hervor. Becker erschafft ein starkes, authentisches „Wiepersdorfer Journal“, voll von „Einzelheiten“, die jeweils für sich stehen und doch über sich hinausweisen.
In den Blick rückt auch der geschichtliche Wandel in jüngerer Zeit, der den Abzug des sowjetischen Militärs aus dem Gelände unweit von Wiepersdorf einschließt. Dieses erscheint in der Perspektive der Poeten als Ort einstiger Stationierung fremder Soldaten und der von ihnen hinterlassenen Stätten und Spuren – was sich zum Thema ‚Vergänglichkeit‘ ausweitet. Das ist etwa bei Richard Pietraß der Fall, bei Christoph Kuhn, aber auch, auf andere Weise, bei der jüngeren Anja Kampmann.
Zum dichterischen Gestaltungsthema wird auch die (Nachwende-) Provinz in ihrer Trostlosigkeit; dem Abhandenkommen von Lebensmöglichkeiten, aber ebenso in ihrer dem Wandel widerstrebenden Traditionsgebundenheit, die Neuerem und ‚Fremdem‘ abweisend gegenübersteht (wie in Christane Schulz‘ Gedicht „Geste“). Gleichwohl gibt es auch Bestrebungen, Verfall und Lethargie zu überwinden; dem Leben Sinn und Würde (zurück-) zu geben, wie in Kathrin Schmidts Text „brachmond mit frauen“. Sind es weibliche Menschen, von denen diese Impulse ausgehen, so bringt Schmidt überhaupt eine dezidiert weibliche Perspektive in ihr Schreiben ein.
Zu einem Provinz-Erkunder par excellence, der beeindruckende lyrische Orts-Porträts zeichnet, wird der schon erwähnte Ralph Grüneberger. Er bleibt dabei aber jemand, der Weltgeschehen in seiner „Gleichzeitigkeit“ wahrnimmt und leidvolles Geschehen, das ihm das Fernsehen von einem entfernten Kontinent übermittelt, lyrisch reflektiert.
Die Gefährdungen in der Welt sowie die Phänomene Tod und Vergängnis sind auch der Autorin Edeltraud Schönfeldt gegenwärtig, obwohl sie sich im vermeintlich abgeschirmten Wiepersdorfer „Gehäuse“ befindet. Andere Stipendiat/innen unternehmen wieder Spaziergänge oder -Fahrten in die Umgebung, entdecken dabei nicht zuletzt die Tier- und Pflanzenwelt, die, etwa bei Christoph Wilhelm Aigner, zum Ausgangspunkt verfremdender Beschreibungen und reizvoller Perspektiv-wechsel sowie des Spiels mit romantischen Motiven wird. ‚Natur‘ erscheint in den Texten der Dichter oft geheimnisvoll, manchmal schaurig oder angsteinflößend, überhaupt wenn sie des Nachts wahrgenommen wird. Der Wald und der Park sind angrenzende, doch sehr verschiedene Bereiche; letzterer ge-, ja „zerpflegt“ – und ersterer Ort voller Unwägbarkeiten; das Märchenhaft-Unbekannte wie das Nicht-Domestizierte, „Wilde“ bergend.
Vereinzelt verhält es sich aber auch anders, lädt der Schlosspark zwar zu Selbstreflexion und Erinnerung ein, doch erscheint zugleich als „Hirngespinst“, von dem neben starker Suggestion eine diffuse Bedrohung ausgeht, denn: „der park tut alles damit du vergisst / nach draußen zu finden“ – wie es in einem Gedicht Sabine Schiffners heißt.
Was die Wiepersdorfer Szenerie des Weiteren belebt oder erschüttert, das sind Naturphänomene wie Sturm oder starker Regen. Auf das Ereignis ‚Schneefall‘ nehmen ebenfalls Texte, darunter ein sehr eindrucksvoller von Rainer G. Schmidt, Bezug. In ihm werden Symbolgehalt und Beziehungsreichtum, die sich mit dem Element „Schnee“ verbinden, zutage gefördert. Das Gedicht „Der Sturm“ von Richard Pietraß ist dagegen ‚aktional‘; es zeigt, wie sich die Requisiten in der Umgebung des Schlosses verselbständigen; ein ‚Aufstand der Dinge‘ entfesselt wird, der auch dem schöpferischen Chaos gleicht – doch eher Misslungenes hervorzubringen droht.
Einhergehend lässt sich anhand der Texte ablesen: Das Schreiben selbst bzw. die dieses bedingende Inspiration nebst Suche danach werden thematisiert; das „Lauern auf Gedanken“, wie bei Gabriele Schmelz oder das gleichsam fotografische Aufnehmen der Umwelt („mit den augen als kamera“) bei Judith Nika Pfeifer, oder generell das Einnehmen einer Haltung, die darauf abzielt, alles Erlebte in geschriebenen Text zu verwandeln. Denn, so verlautet es in Grünebergers Gedicht „Muse im Park“: „Die Vögel und ich, wir wissen / Längst nicht mehr / Daß unser Zwitschern das / Elektrischer Schreibmaschinen ist.“
Im Blickfeld erscheinen auch die Mit-Stipendiaten und deren Gebaren, so bei Henryk Bereska oder Christiane Schulz, wobei letztere den Ort und die Art des Schreibens in dem Gedicht „In Klausur“ satirisch so charakterisiert: „Karg ist die Zelle / Auf tritt das große Düdellütt“ […].
Bei einem anderen Stipendiaten, Danilo Pockrandt, verbindet sich das Ringen um den Schreib-Gegenstand mit dem Angstraum ‚nächtlicher Wald‘ und mit einem bedrohlichen Eulenflug. Diese Themen zusammenführend, verlautet es in dem Gedicht „Beute“: „Ich laufe eilig, den Wald zu verlassen / und über mir kreist und kreist die Eule / wie in mir: das unvollendete Gedicht.“ Vermeintlich unangefochten von solchem Erwartungsdruck feierte Steffen Jacobs in seiner „Ode an das Nichtstun“ den benannten Zustand.
Das Sich-Einstellen von Inspiration als behutsamer, doch selbstverständlicher Vorgang: das taucht in wieder anderen Gedichten auf; so denen Ingrid Fichtners. In ihren poetischen Miniaturen gewinnt das vermeintlich Vertraute eine geheime Magie, ereignet sich „ein leiser Zauberschlag / damit einer sehend werde.“ Dieses Sehend-Werden verbindet sich mit einem Hören-Können, so in dem Text „Herzjagd“, wo Synästhesie vorherrscht; ein Zusammenspiel von Wort, Farbe und Klang gegeben ist. Es ist, als wäre „[in] jedem Baum ein Zauberer / ein Lautenspieler eine Elfe / als wär‘ alles Puppenspiel / die Geschichten von fernen / Ländern sub rosa das Licht / auf dem Teich zwischen / Linde Lärche Scharlach-Eiche / das Blumen-labyrinth“.
In einen Schwebezustand zwischen Wachsein und Schlafen, Wirklichkeit und Traum führt eines der „Schlossgedichte“ Sabine Schiffners. Anderswo erkundet sie, gleich anderen Autor/innen, mit wachem Bewusstsein die Landschaft als geschichtlichen Raum, der sich zur Vergangenheit hin öffnet bzw. deren Spuren trägt. So wird der schon benannte alte jüdische Friedhof zwischen Kossin und Meinsdorf zum erinnerungsträchtigen Ort, der eine Fülle von Assoziationen an die früheren Bewohner der Gegend auslöst. Diese wollten ihre Traditionen und Wurzeln bewahren, „[…] hielten das blau ihrer quasten fest / dachten an das mittelmeer und / rieben so lange bis das blau zu sand wurde / hellem feinen sand wie unter zedernbäumen.“
Die junge Autorin Anja Kampmann bringt ebenfalls landschaftlich-natürliche Gegebenheiten und das Empfinden eines heutigen ‚Ichs‘ mit historischen Bezügen in eine Betrachtungs-ebene, wobei sie neben Ausdrucksreichtum einen „langen Atem“ in der lyrischen Gestaltung beweist. Wesentlich verknappter, dabei mit dem Grundtenor ‚Wehmut‘, vollzieht sich die Wiederbegegnung Gerald Zschorschs mit der Landschaft des Fläming und besonders dem „See der Kindheit Kossin“.
Bei Reinhard Krehl werden Wandlungen in der Natur; wie der Einzug des Frühlings, doch auch das Vorrücken des Herbstes, in eher ‚martialischen‘ Bildern wiedergegeben; sie erscheinen als Angriff und Eroberung. Das Schloss Wiepersdorf selbst scheint einer Art ‚feindlicher Übernahme‘ anheimgefallen zu sein. Im Übrigen nimmt sich der Dichter des Themas ‚verlassene Orte‘ an; wird die einstige „Badestelle Hohenkuhnsdorf“ als Stätte der Erinnerung wie des nunmehrigen Verfalls poetisch skizziert.
Resümieren lässt sich zu den Gedichten der Anthologie „Mit Arnim spazieren“, dass sie ein nuancenreiches Bild von Schloss Wiepersdorf, der näheren und weiteren Umgebung in „Jetzt“ und „Einst“; den Arnims als Persönlichkeiten der Geschichte – und den das Schloss in Besitz nehmenden ‚Heutigen‘, den Stipendiaten, in ihrem Bemühen, gültige Texte zu verfassen, zeichnen. An den Resultaten dieses Erkundungs- und Werkschöpfungsprozesses teilzuhaben, dürfte für Lesende zu einem höchst reizvollen und lohnenden Unterfangen werden.
Mit Arnim spazieren: Schloss Wiepersdorf – Poesie eines Dichterortes
Anthologie mit Gedichten von 25 Stipendiaten / Dichtern der Gegenwart
aus dem Zeitraum von 1992 bis 2018 Zusammengestellt und mit einem Nachwort von Katja Stahl
Wallstein, März 2020
ISBN 978-3-835339-36-1
156 Seiten, gebundene Ausgabe
14,90 €