Gedicht des Monats · August 2015
Wislawa Szymborska
LOB DER SCHWESTER
Meine Schwester schreibt keine Gedichte
und wird wohl nicht plötzlich Gedichte zu schreiben beginnen.
Sie hat’s von der Mutter, die keine Gedichte schrieb,
und auch vom Vater, der keine Gedichte schrieb.
Unter dem Dach meiner Schwester fühle ich mich gesichert:
der Mann meiner Schwester schriebe um nichts in der Welt Gedichte.
Und klingt es auch wie ein Gedicht von A. Mazedonski,
niemand von meinen Verwandten schreibt Gedichte.
In den Schubladen meiner Schwester gibt’s keine alten Gedichte.
in ihrer Handtasche keine frisch geschriebnen Gedichte.
Und lädt meine Schwester zum Mittagessen ein,
dann nicht um Gedichte vorzulesen, das weiß ich.
Ihre Suppen sind vorzüglich ohne Hintergedanken,
und der Kaffee tropft niemals auf Manuskripte.
In vielen Familien schreibt niemand Gedichte,
und wenn – dann kaum eine Person allein.
Manchmal fließt Poesie mit Geschlechterkaskaden daher,
was in Gefühlsbeziehungen schlimmen Wirbel verursacht.
Meine Schwester pflegt eine rechte mündliche Prosa,
die Urlaubskarten sind ihre ganze Schriftstellerei,
darin sie jedes Jahr dasselbe verspricht:
sie werde nach ihrer Rückkehr
alles, alles,
alles erzählen.
Übertragen aus dem Polnischen von Karl Dedecius
© Wislawa Szymborlsa Foundation Krakau
Quelle: Gedichte von Welt. Leipzigs Partnerstädte, Poesiealbum neu, Sonderausgabe