Kathrin Schmidt

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„sommerschaums ernte“

März 2022 – Empfehlung des Monats von Marianne Beese

Bezüge des Lebens und der Tod – Nähe, modulierend durchgespielt

Die Vorgänge und Geschehnisse in Kathrin Schmidts jüngstem – dem achten – Gedichtband weisen einen hohen Grad an Verschlüsselung auf, und das trotz oder wegen vieler sinnlicher bzw. konkreter Bezüge. Diese verbinden sich jedoch oft mit abstrakten oder semantisch unvereinbaren Wörtern oder Wendungen (Beispiel: „Ich machte drei kreuze, schlug sie ein in seidnes papier“). Das Amalgamieren des Konkreten mit dem Abstrakten schlägt sich auch nieder in Wortneuschöpfungen wie „oblatengeschrei“ oder „algorithmen in bierteig“ – und weiteren sprachlichen Kreationen. Findet so ein hochgradig sprachschöpferisches, die herkömmlichen Bedeutungen ‚überschreibendes‘ poetisches Verfahren statt, so wird auch die Mehrfachbedeutung von Wörtern genutzt, etwa wenn von der „aufgabe der atmung, die so / oder so vor uns steht“, die Rede ist. Es werden ebenfalls zusammengesetzte Wörter oder sprachliche Wendungen, die gleichsam als Sinneinheit festgelegt sind, ‚zerlegt‘ und spielerisch neu zusammengesetzt (Beispiel: „herrn schöll und frau lunge / aus der familie kraut“). Sprichwörter werden ‚beim Wort genommen‘ und auf ihren Sinngehalt hin befragt.

Grundsätzlich entstehen Kontrast-Gefüge und dialektische Wechselverhältnisse. Auch scheint das musikalische Prinzip der Modulation auf die Sprache übertragen. Zeilensprünge sorgen dafür, dass sich nicht selten ein neuer Sinn der Aussage ergibt.

Das Vorstellungs-, Bild- und Wort-Material, das in den Texten verwendet wird, entstammt oft dem Alltag, bezieht Gebrauchsgegenstände ein, aber etwa auch Lebensmittel, Arzneien, chemische Substanzen… Entsprechende Abläufe chemischer, aber auch technisch-mechanischer Art werden in andere Bedeutungsbereiche übertragen. Zuweilen ist grotesk Anmutendes dargestellt – wie das Besetztwerden des Körpers mit körperfremden Dingen oder Erscheinungen, so in „sanitätseinsatz“, wo ein Koffer Raum in einem menschlichen Leib beansprucht, oder in „lunatische gedichtnis“, wo der im Mund befindliche, ja dort aufgehende Mond das lyrische ‚Ich‘ am Sprechen hindert. Dies deutet auf Sprachverlust, ja das traumatische Nicht-verfügen-Können über den eigenen Körper hin.

Spielt der Bereich ‚Körperlichkeit’ eine große Rolle, so wird er grundsätzlich mit den Bezugsebenen Raum und Zeit – im Sinne des Sich-Entfaltens, doch auch Vergehens – in Beziehung gebracht. Gelebtes Leben wird im ‚Zeitraffer‘ und unweigerlich als Geschichte des Alterns skizziert, wobei aber nicht nur die Körper betroffen sind, sondern auch die Empfindungen; die Lebendigkeit der Wahrnehmungen und die Intensität der Gefühle.

Ist die Zwiesprache mit einem ’Du‘ somit ebenfalls ein  beherrschendes Thema des Bandes, so ist darin auch  die Erinnerung an Annäherungen eingeschlossen;  an eine starke und langdauernde Liebe, die dem Einsetzen von Entfremdung voraus- bzw. einherging. Lieb-losigkeit behält aber nicht das letzte Wort, denn kontrapunktierend sind mehrfach Vorgänge des Einander-Wiederfindens lyrisch gestaltet.

Das ist etwa in den Gedichten „höfischer phlox“ und „erkundung“, zugehörig dem Kapitel „paar unterm dach“, der Fall. Das Sich-Fremdwerden wird hier als ein körperliches Voneinander-Abstand-Halten kenntlich, etwa wenn es in der Anrede an das Gegenüber heißt: „nun zimmerst du dich nachts aus“, was ganz wörtlich zu nehmen ist; hat der Partner sein Schlafquartier doch im Garten aufgeschlagen.

In dem im nächsten Text vor sich gehenden Prozess eines Wiederfindens spielt die Tier- und Pflanzenwelt eine besondere Rolle. Das ‚Ich‘ erlebt eine Verschwisterung mit dem Ringsum (hier: dem Wald), macht auch wunderschöne Entdeckungen wie: „ein fasan schwieg sich silber ins kleid“ – und kann zum Ende der Suche hin konstatieren: „die herzauster war schon aufgegangen, / zum glück, als ich dich fand.“

Entfremdung bleibt trotz Wiederannäherung ein nicht mehr zu tilgendes Zubehör zum Spektrum der Gefühle. Gleichwohl übernehmen die Partner Verantwortung füreinander, was sich als Thema etwa des Gedichts „technischer fortschritt“ herauskristallisiert.

Weitere Aspekte von meist schwierig verlaufender Gemeinsamkeit werden in der Spanne zwischen erfolgreicher Werbung um das ‚Ich‘ (wie in dem Text „gesellenstück“ ) und Vertrauensverlust oder dem allmählichen Einander-Verlieren (wie in „schwarze platten“) thematisiert. Hineingeschrieben in dieses Gedicht ist auch die Ambivalenz von Verstand und Gefühl; das Leiden „in köpfisch gmünd […] am herzübl.“

Spiegelt sich in den Texten, wie etwa in „stundenausfall“, oft der Einfluss der vergehenden Zeit auf eine Beziehung wider; so wird dort gleichermaßen das Motiv einer möglichen Zeitunterbrechung durchgespielt, wenn es heißt:  „wir waren dem tag nicht geglückt, der es vorzog, / uns auf reisen zu schicken zu seinem verfolger / und ihn zu verlassen. was sollten wir tun. / wie aus der zeit fallen. und wieder mitten hinein.“ Ein Kreislauf von Geburt, Leben und Tod vollzieht sich hingegen in dem titelgebenden Text des Kapitels „paar unterm dach“. Dort verbindet sich das Ergehen jenes Paares mit dem Schicksal von Fledermäusen; dem Animalischen, das einem biologischen Zyklus folgt.

Bleiben die Zeitvergängnis und deren Folgen ein vorrangiges Thema des Bandes, so artikulierte das ‚Ich‘ schon im ersten Kapitel und in dem Titelgedicht „sommerschaums ernte“ die Trauer über den Verlust der Jugend. Zugleich wird Sehnsucht nach dem Verlorenen ausgesprochen, doch das Sich-in-Beziehung-Setzen mit den „mädchen der stadt“ bringt nur das unwiderrufliche Bewusstsein des eigenen Alters; kenntlich etwa an den sprichwörtlichen mürben Knochen, und die resignierte Einsicht: „nichts blieb mir übrig, als es den mädchen nachzusehen, wie sie perlten.“ Schließlich erfolgt der melancholische Nachvollzug des Jungseins dieser als synästhetischer Vorgang: „[…] sehr deutlich hörte ich dann / die schönen klanglichen körper der mädchen, birnen und deren duft.“

Weitere Gedichte widmen sich den Verzweigungen und Verwicklungen der eigenen Biografie, thematisieren, wie der Text „im mädchenwald“, das einstige Erwachsenwerden als ebenso aufregend-lebendiges wie auch verlustreiches Geschehen. Ein ebenfalls prägnantes Beispiel bietet „engerlings blues“. Hier löst der Anblick eines hilflosen Maikäfers einen Lebensrückblick oder ‚Lebensfilm‘ aus. Es erfolgt ein Sich-in-Analogie-Setzen‘ mit dem Insekt, dessen Metamorphose nachvollzogen wird: als Verlassen des schützenden Kokons, mithin als Schutzlos-Werden.

Mehrfach verbindet sich biografische Thematik mit geschichtlich-gesellschaftlicher, so in dem Text „gelbes elend“, der anrührend, ja erschütternd darlegt, dass und wie das Schicksal des Vaters auf die Tochter gekommen ist, die sich wiederum auf ‚Spurensuche‘ begibt; dorthin, wo der Vater einst inhaftiert war. Die Zeitebenen der Gegenwart und der Vergangenheit sowie die Bereiche der Toten und der Lebenden kommunizieren miteinander.

Geschichte als über-individuell wie individuell zu begreifendes Geschehen gestaltet auch der Text „bildnis der grenze als verlorene zeit“. Dieses Gedicht lässt die Ära des „Kalten Krieges“ assoziieren, welche die Teilung Deutschlands einschloss – wobei jene Zeit zugleich die des Zur-Welt-Bringens der Kinder war. Das Zurückdenken an das frühere, quirlige Zusammenleben mit diesen, die nun aus dem Haus sind, bildet neben dem des eigenen Jung-gewesen-Seins einen weiteren Themenkreis, so in den Gedichten „nach dem trabantentrara“ oder „spätlese“.

Eine Reihe von Texten widmet sich, teil gekoppelt mit der Erfahrung des Aufwachsens und Lebens in der DDR, dem Transformationsprozess, der durch die „Wende“ und nachfolgende Ereignisse vor sich ging. Von verlorengegangenen gesellschaftlichen Strukturen spricht das Gedicht „werkswesen“. Es ist ein ‚Abgesang‘ auf den werktätigen DDR-Alltag, der verschwand – und mit ihm die Menschen, die ihn gestalteten. Der Vorgang wird als tragikomisches Geschehen mit satirischen wie melancholischen Facetten gezeichnet.

Der Text „sturzkasse“ liefert ein ‚Zustandsbild‘ einer Gesellschaft im Umbruch bzw. in der Krise. Soziale Differenzen werden spürbar; Abstiegsangst greift um sich. Dies ist stilistisch gestaltet mit dem Mittel der Bedeutungserweiterung; d.h. konkrete Dinge weisen über sich hinaus, gewinnen Verallgemeinerungswert (wie das „untere regalfach“, in das die Mittelschicht zu fallen befürchtet).

Das Gedicht „parzelliertes verbrechen in untergeordneter landschaft“ spielt Variationen rund um das Thema des Zerfalls der Staaten; von ‚Flucht‘ und ‚Asyl‘ durch; der Text „fälliger wechsel“ bezieht Partei gegen die „mehrwertjäger“, die sich auf Kosten ärmerer (südlicher) Länder bereichern, während diesen „selbst notwährung fehlt“. Negative Folgen der Globalisierung, nämlich unter anderem schwere soziale Verwerfungen, sind auch in dem Gedicht „l’absence d’eau“ angesprochen. Dort lautet das bittere Resümee: „die wohlstandsfolie und ihr stummes gleißen / sind anzubeten, während blasse maden / die lebenden zum danse macabre laden.“

Das Kapitel „gemischt faschiert“ kehrt, ebenso wie zuvor „paar unterm dach“, wieder stärker zu individueller Thematik zurück, bringt etwa Leiden zur Sprache, die aus nicht gelingendem menschlichem Miteinander herrühren, oder berichtet vereinzelt, wie der Text „lockerer taschenschnabel“, von erfolgreicher ‚Trauerbewältigung‘, wohl im Gefolge einer gescheiterten Beziehung. In beiden Kapiteln klingt zudem jene biografische Phase an, wo die krankheitsbedingte Hilf- und Sprachlosigkeit zu überwinden war. Es ging darum, eine Neu-Ordnung der Dinge gemäß ihrer Wichtigkeit zu finden bzw. herzustellen. Zugleich war die Sprache über den ‚Umweg‘ der Sinne zurückzugewinnen. Das geschah in einem langwierigen Prozess. So lässt die schon erwähnte „lunatische gedichtnis“ die erlebte Beeinträchtigung als Zustand, in dem sich die Zeit ins Unendliche dehnt, erfahren. Vergleichbares spricht der Text „synkope“ aus, während in dem Gedicht „gemischt faschiert“ der Körper als Gefängnis wahrgenommen wird.

Die Erfahrung des Ausgeliefertseins, doch auch des nicht nachlassenden Wartens auf Besserung und Ringens darum, wird ebenfalls prägnant abgerufen in dem Text „optionshandlung“, wo es heißt: „ich handle in eignem ermessen, / das maßband nimmt der rolle vier meter ab, / die in meinem Kopf stranden. / geduldiges warten auf die gehütete ordnung / der reißverschlüsse, die ich zwischen die hirnareale / steppen möchte, sie nach belieben zu koppeln, / zu separieren, mandelkernnah.“

In dem Text „schwundsache“ wird der Ich- und Weltverlust ebenso wie das ‚Zurückkehren‘ der Welt poetisch fassbar als Ineinander des Visuellen und Akustischen;  machen sich in der Wahrnehmungssphäre Tier-Wesen geltend, die, eine vor-bewusste Stufe markierend, doch wie Helfergestalten im Märchen wirken, die den Weg zurück ins Leben weisen.

Einen glanzvollen Abschluss des Bandes bildet ein Sonettenzyklus – „Aschene Quadrille“ –, dessen ‚düstere‘, ja makabre Thematik doch mit großer satirischer und poetischer Kraft gestaltet wurde und Kathrin Schmidt einmal mehr als Meisterin der Form ausweist.

Abschließend lässt sich für „sommerschaums ernte“ eine Empfehlung aussprechen in dem Sinne, dass das Sich-Hineindenken und Hineinfühlen in die Texte hinlänglich belohnt werden durch ein sehr berührendes, nachwirkendes und mit jeweils neuem Gewinn zu wiederholendes Lese-Erlebnis.


Kathrin Schmidt

„sommerschaums ernte“

Gedichte

Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020

ISBN 978-3-462-05390-6

20,00 € (geb.)