Jutta Pillat (Hg.): … ist die luft wie seide…

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Oktober 2022 – Empfehlung des Monats von Marianne Beese

Facetten der Liebe – aus weiblicher Perspektive wahrgenommen und gestaltet

Liebesgedichte von zehn Autorinnen; die älteste vom Jahrgang 1931 und die jüngste 1993 geboren, werden in der im vergangenen Jahr erschienen Anthologie „…ist die luft wie seide…“ vorgestellt. Bei aller Unterschiedlichkeit der lyrischen Formensprache gibt es doch Gemeinsamkeiten; fällt etwa auf, dass mehrfach musikalische Strukturen auf den jeweiligen Text übertragen werden; dass generell „Musik“ eine große Rolle spielt, ebenso aber „Tanz“ – und gelegentlich auch die bildende Kunst. Anleihen werden des Weiteren genommen bei literarisch Tradiertem; bei Märchen und Mythen; es werden einhergehend Archetypen der Weiblichkeit beschworen. So erfolgt denn die Aussage mancher Autorin über sich als „Hexe“ oder als „Nebelfrau“ – oder identifiziert sich eine andere mit der mythischen Vorfahrin Daphne, die Nachstellungen des Gottes Apoll entkam, und dies dank ihrer geschehenen Verwandlung.

Von der stilistischen Form her sind in der Anthologie häufig freirhythmische Gedichte vertreten, die mitunter Prosa-nahe ausfallen, dann wieder lakonische Kürze aufweisen, doch ebenso gereimte Texte – und an einer Stelle ein Sonett. Es werden Stakkato-gleich sprachliche Versatzstücke kombiniert oder wiederkehrende Wendungen gleichsam moduliert oder aber Aussagen getroffen, die schlicht und schnörkellos daherkommen.

Mitunter geht vermeintlich Unvereinbares in den Versen eine überraschende Synthese ein; wird etwa Alltagsvokabular bzw. Vokabular, das Alltagsgegenstände bezeichnet, mit einem ‚hohen‘ Abstraktum kombiniert, so dass sich Wendungen wie „die Pantoffeln deiner Seele“ ergeben. In einem weiteren Gedicht der Autorin Dagmar Dusil nehmen die in der Verschränkung des Konkreten mit dem Abstrakten dargestellten Bewegungsabläufe den Charakter einer Traumsequenz an; das Ineinander-Aufgehen zweier Liebender – doch auch Todnähe anzeigend. In einigen Gedichten – so denen Uta Hauthals – wird die Mehrdeutigkeit (Polysemantik) von Wörtern genutzt, etwa in dem Text „Darin“, wo es heißt: „Du setzt die Silberflöte / An deinen Mund / Ich nehm‘ den Ton / und knet‘ daraus / Ein Lied“.

Was das Inhaltliche der Texte  betrifft: „Liebe“ kann ganz unterschiedliche Aspekte aufweisen; ist oft ambivalent, enthält „Bitterkeit und Süße“ gleichermaßen (wie ein Text Eva Lehmann-Lilienthals es ausspricht);  erscheint als Feier übermütiger Fantasie wie als bodenständige, erfüllende Partnerschaft; als Selbstbehauptungsversuch ebenso wie als Zustand nahe der Selbstaufgabe; als freudige Gewissheit ebenso wie als quälende Ungewissheit und Preisgabe an die Unbeständigkeit des Geliebten.

Missverständnisse und sehr schmerzhafte Abschiede (wo Gesagtes „auf der Müllhalde der Stadt“ ‚entsorgt‘ wird – wie in Dusils  Text „Und ich wanderte nochmals durch deine Worte“ – oder gar Bedrohliches („als ginge man auf einem Teppich, / worunter eine Waffe klirrt“ in Gisela Kohl-Eppelts „Diese Stimme“) oder aber Besitzanspruch als Grundtenor einer Beziehung, wechseln sich ab mit der Skizzierung einer harmonischen Gemeinsamkeit bzw. der Momentaufnahme eines Tages voller Einklang, ganz ohne Angst noch Gefährdung – wie in dem Gedicht „Ist das schon Glück“, ebenfalls von Kohl-Eppelt.

Liebe als Phänomen, das im Alter weiterhin eine Rolle spielt, sprechen manche Gedichte an – und das in der Spanne zwischen abgeklärter Zufriedenheit und schelmischer Selbstironie („Wenn zwei alte Leutchen…“ von Eva Lehmann-Lilienthal) – Ekstase und Leidenschaft („wie ein klavierspiel“ von Jutta Pillat) – sowie Resignation („je mehr der jahre“) von Linde Unrein.

Zuweilen ist das Thema „Liebe“ mit dem der „Dankbarkeit“ gekoppelt, so in den Texten „dank“, „gewissheit“ oder „versöhnung“ der letztgenannten Autorin, und es gilt dieser Dank einer späten, kaum noch erwarteten, doch desto mehr Glück spendenden Zuneigung, die auch den Zugang zur Welt wieder öffnet und bewirkt, dass die Liebende mit sich selbst in Übereinstimmung bzw. ihrer selbst gewiss ist („und ich schau / in deine augen und stürme / den himmel“). Dieses überschwängliche Liebesempfinden stellt die Alternative zu einer Haltung des lediglich „aufs überleben sinnen“ dar.

Eine vergleichsweise große Rolle spielt in den Gedichten neben dem ‚eigentlichen‘ Beziehungs-Aspekt auch der, dass „Liebe“ künstlerische Kräfte freisetzt und vor allem mit dem lyrischen Selbstverständnis der jeweiligen Autorin korrespondiert, was wiederum in die Liebesbeziehung hineinwirkt. So wird Genugtuung empfunden und geäußert angesichts des Wortes, das sich eingestellt hat. Der spielerische Umgang mit diesem gelingt: „wie Liebe und Tändelei“ in dem Gedicht „Unterhaltung“ von Gisela Kohl-Eppelt.

In Variationen bzw. Modulationen erfolgt auch bei ihr das weitere Erproben von Sprache – und führt zu einer sich steigernden Intensität der Aussage („Die Stille“). Werden in diese Natur-Phänomene einbezogen, so ist das auch in dem Text „Ewige Liebe“ der Fall, der die Verwandlung der Liebenden ins Elementare, Zeitüberdauernde nachvollzieht.

In einem anderen Gedicht der gleichen Autorin („Sehnsüchtig gewesen“) erscheint das ‚Ich‘ hingegen in seiner Einsamkeit, sich vergeblich nach Liebe sehnend. Wunschbild und desillusionierende Realität kontrastieren miteinander.

Liebe in der Dimension des Gefährdenden; da ‚Umschlingen‘- und ‚Behaltenwollens‘, das taucht wiederum in dem Gedicht „Ich habe es immer geahnt“ auf. Es ruft erneut Zustände und Vorgänge in der Natur, in diesem Falle der Pflanzenwelt, gleichnishaft auf.

Liebe als ‚Abwesenheit‘, oder offenbar nur in der Erscheinungsform einer flüchtigen, oberflächlichen Begegnung, deren Anfang schon sein Ende in sich birgt – das artikuliert sich einmal mehr in dem Text „stille Kreise“, dessen Verfasserin die 1993 geborene Laura Friedrich ist. Zurück bleibt ein Gefühl der Bitternis; zeigte sich doch „ein eisiges Leben, was nicht passen will“ – aber auch Hoffnung, dass wirkliche Liebe einmal gelingen möge.

Ein weiteres Gedicht („Uferlos“) spricht ebenfalls die Sehnsucht nach Verstanden-Werden bzw. Einander-Verstehen und Sich-Vertrauen-Können aus.

Das Beklagen von Einsamkeit – hier fassbar als Verlust der Kontakte zum ‚Draußen‘ – wird zum Thema in dem Gedicht „Bekenntnisse“ von Sibylle Kuhne, wird aber auch bei dieser Autorin gefolgt von der Aufschwung verheißenden Vision eines Gelingens: des Lebens wie der Liebe, gekoppelt an magische Kräfte („Ich bin eine Hexe“).

Stellt in etlichen Texten der Anthologie die Körperlichkeit einen wichtigen Bereich dar, so wird der Körper gleichsam als Ausdrucksmittel genutzt oder sprachlich erkundet – manchmal auf sehr expressive Weise, wie in Laura Friedrichs „Glaskugelhafen“.

In dem Text „daphne“ von Linde Unrein gelangt nicht nur das Metamorphose-Prinzip zum Ausdruck, sondern es wird der weibliche Körper (ähnlich und doch anders als in Gisela Kohl-Eppelts Text „Ich habe es immer geahnt“) als etwas durch männliches Begehren, ja männliche Gewalt Bedrohtes dargestellt.

Dieser Aussage entgegengerichtet, ist mit Blick auf die körperliche Beschaffenheit des ‚Ichs‘, das einen Alterungsprozess durchlaufen hat, die Einsicht ausgesprochen, dass, je mehr die äußere Anziehungskraft schwindet, Alleinsein droht („je mehr der jahre“)

Auch in „bodily affairs“ hieß es bereits: „ich bin und dieser / körper geht dabei / immer ein / in die rechnung“. Die „Rechnung“ wird aufgemacht angesichts einer Beziehung, in der das ‚Ich‘ besonders verletzbar, ja geradezu ausgeliefert an das Gegenüber erscheint.

Von Zeitvergängnis und deren Auswirkungen handelt auch das leicht dahinschwebende Gedicht „fokus vorfrühling“, das zeigt, dass aus den „erwartungswolken“ und „angeboten“ „unzählige adieus“ geworden sind, nachdem es zuvor hieß: „zeitpanik greift ans herz“.

Bei der Autorin Mona Ragy Enayat wird „Liebe“ als tiefe, emotionale Verbundenheit mit der Heimat kenntlich. Auch erfolgt wieder die Verbindung von Liebe und Poesie, etwa wenn es heißt: „Und ich webe Lieder dir aus meiner Liebe“.

„Liebe“ und „Musik“ wiederum  gehen ihre Synthese ein in Jutta Pillats schon erwähntem Gedicht „wie ein klavierspiel“, das mit Sinnlichkeit und Erotik ‚aufgeladen‘ ist. Liebe erscheint hier vorrangig als körperliche Begegnung zweier Menschen – und in gleichnishafter Weise tritt Synästhesie zutage; zeigt sich die Simultaneität von Hören (Musik), Fühlen (Stofflichkeit als Seide), stimmlicher Artikulation des Ichs und einem ekstatischen Empfinden, das alles übergreift bzw. in das alles mündet – und welches das Ich über sich selbst staunen lässt.

In dem Text „halt der libelle“ geht es vor allem um die Sehnsucht nach dem Andauern der Liebe; dem Einhalt-Gebieten-Wollen ihrer zauberischen Flüchtigkeit.

Vom „blasser“-Werden der Farben handelt dagegen der Text „hochzeit“ – d.h. in Bedeutungsübertragung vom Nachlassen der Empfindungen, deren Intensität verlorenging.

Wie ein Kontrapunkt mutet das Gedicht „kleine sinfonie“ an, spricht es doch in einfacher, klar strukturierter Weise eine Liebeserklärung an einen langjährigen Partner aus. Gleichwohl wird auch das Quäntchen Unerfülltheit bzw. Nicht-Genügen in der Partnerschaft benannt, das nicht zu tilgen ist.

In anderen Gedichten Jutta Pillats tritt ein weiterer Aspekt einer sich im Laufe der Zeit zwangsläufig wandelnden Beziehung zutage: „Liebe“ evoziert hier den Gedanken an Vergänglichkeit und Tod, der am Ende zu erwarten sein wird. Dieses Thema klingt in „blauer westfale“, doch ebenso in „sonett für dich“ an. Letzterer – formstrenger – Text beruft sich aber auch wieder auf die Leiden und Tod überwindende oder ihr doch etwas entgegensetzende Kraft der Kunst (Musik).

Sehnsucht nach Einklang und Einswerden des Verschiedenartigen spricht das Gedicht „kiefern am strand“, gekleidet in eine Natur-Metapher, aus – und der „totentango“ handelt erneut von der Verschmelzung der Künste: der bildenden Kunst, der Musik und der Tanzkunst. Ein Paradoxon entsteht durch die Kopplung von „Tod“ und „Lust“ bzw. dem „Am-Leben-Sein“ des Todes, der durchaus von manchem ersehnt wird.

In den Gedichten der schon verstorbenen Dora Schönefeld entsteht Einprägsamkeit durch Rhythmisierung und Reime beziehungsweise durch eine liedhafte Struktur des jeweiligen Textes. Charakteristisch sind auch Wortzusammensetzungen, die sich aus an sich ‚verbrauchten‘ Wörtern zu Wortneuschöpfungen fügen. Einhergehend strebt die Aussage nach Verknappung und Substanziellem, so in dem Text „nackt ist der körper der liebe“.

An anderer Stelle erfolgt eine sprachspielerische poetische Selbstinszenierung, etwa in dem Gedicht „treulos“, das in die Aussage gipfelt: „ich bin eine nebelfrau“.

Vergleichbares geschieht in dem Text „waltz dream infernal“, der Märchen-Motive entlehnt und spielerisch variiert bzw. verknappt ‚ineinander-schreibt‘, wobei auch Selbstironie des lyrischen Subjekts zum Tragen kommt. Der Text endet mit dem Verweis auf ein Glückssymbol („… bei den drei birken ist ein / klee vierblättrig“) – und also hoffnungsvoll.

In tiefe Ambivalenz hinein führt dagegen das Gedicht „sentimentales rondo“. Wieder bietet es eine Musikstruktur dar, die aufs Gedicht übertragen wird; wieder ist dieses durch eine starke Rhythmisierung geprägt – und wieder erscheint Liebe in ihrer Zwiespältigkeit, verschärft durchs Alter.

Diese Aussage wiederholt sich in abgewandelter Weise in den Gedichten „Liebeslied solo“ und „Sächsische Arabesken“. In letzterem versinnbildlicht die Metapher „Tanz“, den die Liebende vollführt, den (selbst-) zerstörerische Charakter, den Liebe mitunter annehmen kann – ehe der Wunsch nach ‚Erdung‘; nach Selbsterhaltung inmitten der ekstatischen Auflösung und nach einer Synthese von Leidenschaft und Im-Leben-Bleiben die Oberhand gewinnt: „ein pax de deux mit dir / aus einem guss wenn du / mich aus der mitte biegst / singen im blut rhythmus / in den knochen irgendwie / muss ich noch einen fuß / auf die erde kriegen ehe / mir im wilden tanz die / sinne schwinden“.

So ergibt sich denn als Resümee: Die mit einfühlsamen Illustrationen versehenen Texte der zehn Autorinnen bilden ein vielfältiges Spektrum des Phänomens „Liebe“ ab, in welchem vor allem die Leserin, aber auch der Leser nicht zuletzt selbst Erlebtes und Empfundenes, poetisch anspruchsvoll gestaltet, wiederfinden und von der Lektüre entsprechend berührt sein dürften.

Jutta Pillat (Hg.)

… ist die luft wie seide…

Sammlung Liebesgedichte mit Zeichnungen von Gisela Kohl-Eppelt,

halbton Verlag Leipzig, 2021

ISBN: 978-3-9818865-8-0

108 Seiten, 26 Illustrationen

Hardcover