Empfehlungen des Monats März 2025: Ulrich Koch: „Letzte Hilfe Kurs”

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Empfehlung des Monats von Matthias Schramm, ausgewählt von Steffen Marciniak:

Ulrich Koch: Letzte Hilfe Kurs

In einer Lyriklandschaft, die sich nicht selten mit modischer Innerlichkeit oder der Wiederaufbereitung überlebter Formen begnügt, setzt Ulrich Koch mit seinem neuen Band „Letzte Hilfe Kurs“ ein poetisches Signal von Dichte und intellektueller Schärfe. Koch, der seit Jahrzehnten zu den stillen Schwergewichten der deutschsprachigen Gegenwartsdichtung gehört, legt mit diesem Werk ein Vademecum vor – nicht nur für das Sterben, sondern für das Leben in seiner prekären Gleichzeitigkeit von Zärtlichkeit und Zerfall.

Der Titel selbst ist doppeldeutig und performativ: Der „Letzte Hilfe Kurs“ besitzt sowohl eine ironisch gebrochene Anspielung auf den gängigen Erste-Hilfe-Kurs als auch eine literarische Übung im Abschiednehmen, in der Todeskunde, in ars moriendi. Doch diese „Hilfe“ ist alles andere als endgültig. In vielen Gedichten wird der Tod nicht als finales Ereignis, sondern als Durchgang, als Wiederkehr, als absurde Alltäglichkeit inszeniert. Der Topos der Wiedergeburt – „Am Tag unserer Wiedergeburt / gibt es eine Sondersendung“ – verschränkt sich mit biografischer Erinnerung, politischer Implikation und religiöser Rhetorik zu einem poetischen Palimpsest.

Kochs Sprache ist klar, aber niemals schlicht. Sie ist durchsetzt von metaphorischer Präzision, die auf mich nicht dekorativ, sondern erkenntnisgenerierend wirkt. Die Bilder sind – im besten Sinne – verstörend: „Ich fresse den Dreck unter den Nägeln der Engel“ oder „Die toten Kinder krabbeln / als Schlafwandler zurück“. Derartige Verse entziehen sich der Kategorisierung; sie oszillieren zwischen Surrealismus, Mystik und existenziellem Realismus. Die Welt, die in diesen Gedichten entworfen wird, ist von tiefem Misstrauen gegenüber der Sprache durchzogen – und zugleich von der Hoffnung, dass das Gedicht als Form vielleicht das letzte Medium sei, in dem noch Wahrheit aufscheint.

Strukturell überzeugt mich der Band durch eine intelligente Gliederung in fünf lose korrespondierende Kapitel, die keine lineare Entwicklung abbilden, sondern vielmehr thematische Verdichtungen erzeugen. Wiederkehrende Motive: Vögel, Engel, Rollkoffer, Pflegebetten, Kinder, Tiere – wirken wie poetische Koordinaten eines über das ganze Werk gespannten Echosystems. Die Titel selbst – etwa Trench Foot, Waschung, Vergleiche sind wie Tiere in Gefangenschaft oder Der Angst hängt noch ein Stück Seele aus dem Maul – zeigen, dass Kochs Poesie vom Konkreten aus operiert, ohne jemals im bloßen Anekdotischen zu verharren.

Besonders hervorzuheben ist für mich Kochs Umgang mit der Zeit. Seine Gedichte unterwandern lineare Chronologien und erzeugen ein Gefühl der Gleichzeitigkeit von Kindheit, Alter, Tod und Wiederkehr. Vergangenheit ist nicht vergangen, sondern latent, „wie Grashalme, die an der Rückseite / der Picknickdecke hängenbleiben“. In diesem „Universum“ ist alles zugleich Rückblick, Abschied, Vision.

Der Dichter spricht aus einem Zwischenreich: zwischen Leben und Tod, zwischen Bild und Bedeutung, zwischen Ich und Kollektiv.

Nicht zuletzt ist „Letzte Hilfe Kurs“ auch ein eminent politisches Buch. Ohne den Zeigefinger zu heben, zeigt es die Wirklichkeit der Pflege, der Vereinsamung, der gesellschaftlichen Randzonen – aber auch die Gewalt der Geschichte, die sich ins Private einschreibt. In einem der für mich eindrucksvollsten Gedichte heißt es: „Der General / ließ, bevor man aß, / einen Sack aus dem Keller holen … / Sein Inhalt bestand / aus menschlichen Ohren.“ Solche Szenen erinnern an Carolyn Forché, Paul Celan oder Ingeborg Bachmann – Stimmen, in deren Nachfolge Koch steht, ohne, wie ich finde, epigonal zu sein.

Seit jeher hat sich die Dichtung an der Kunst des Sterbens erprobt – von den mittelalterlichen ars moriendi-Traktaten und Totentänzen bis zu den apokalyptischen Visionen einer Ingeborg Bachmann, den Nachtliedern eines Paul Celan oder Georg Trakls unheilvollen Naturbildern. In Ulrich Kochs neuem Lyrikband Letzte Hilfe Kurs tritt nun das uralte Thema des Todes und der Vergänglichkeit erneut in den poetischen Fokus – jedoch mit einer eigentümlichen Mischung aus Tiefenschärfe und Leichtigkeit, lakonischem Humor und metaphysischem Ernst.

Bereits der Titel selbst – eine verquere Abwandlung des vertrauten „Erste Hilfe Kurs“ zur „letzten Hilfe“ – deutet an, dass hier ein „Lehrgang“ im Sterben stattfindet. Und tatsächlich wird der Leser in diesen Gedichten Zeuge eines fortwährenden danse macabre, bei dem Leben und Tod untrennbar im Reigen liegen. Kochs Verse wimmeln von Engeln und Larven, Witwen und Kannibalen, von Eintagsfliegen und Schnittblumen – Symbolen also des Flüchtigen und Endlichen, aber auch des Überlebenswillens. Eine solche Inventarliste erinnert an barocke Vanitas-Stillleben, in denen Totenschädel neben welken Blumen stehen; doch Koch arrangiert seine eigene Schaukammer der Vergänglichkeit mit zeitgenössischer Verve. Schon das Umschlagbild – ein kleines Kind vor einer musealen Glasvitrine voller Tiere, Skelette und Fossilien – spiegelt diesen Spannungsbogen: Unschuld und Neugier blicken auf die Exponate des Todes und der Geschichte, und wir ahnen: Hier wird Vergänglichkeit staunend besichtigt, aber auch trotzig verspottet.

Die einzige Figur allerdings, die laut einem humorvollen Motto hier wirklich gestorben ist, sei Gott – „der einzige Tote in diesen Gedichten ist Gott“, heißt es provokativ. Folgerichtig bevölkern Kochs Szenarien eine im Grunde gottlose Welt, in der Transzendenz jedoch auf andere Weise aufscheint: zum Beispiel in Gestalt moderner Engel, die unvermutet im Alltag auftauchen. In einem Gedicht namens „Wiedergeburt“ erscheint dem lyrischen Ich eine Zugbegleiterin im Nachtzug plötzlich als himmlisches Wesen: „Worte können ihre Schönheit nicht erreichen. / Alles kniet nieder, betet und weint: / ein uniformierter Engel, ein himmlisches Zeichen.“ Hier schimmert ein sakraler Glanz auf im Profanen – ein Engel im Dienstabteil, eine Erscheinung in Uniform. Man mag an Rainer Maria Rilkes berühmte Engel denken, jene furchteinflößenden Boten der Duineser Elegien, doch Kochs Engel sind von anderem Schlag: irdisch konterkariert, unerwartet tröstlich und zugleich leicht ironisch gebrochen. Auch religiöse Bildwelten wie die Pietà oder das Jüngste Gericht werden nicht direkt zitiert, aber als Hintergrundfolie spürbar: Wo eine Figur ihr letztes Lachen aushaucht, während sie noch den rettenden Zug erreicht, fühle ich mich unwillkürlich an die Ikonografie der sterbenden Heiligen oder der letzten Dinge erinnert – aber eben in die heutige Welt übertragen, mit Rollkoffer und Zugticket statt Heiligenschein.

Überhaupt ist Bewegung zwischen den Welten ein Leitmotiv dieses Bandes. Wiederholt werden Übergänge inszeniert, wird das Ende unterlaufen, die finale Grenze überschritten – oftmals ins Fantastische oder Groteske gewendet. „Jedes letzte Gedicht ist ein vorletztes Gedicht“, lautet ein Schlüsselsatz, der Kochs Umgang mit dem Ende auf den Punkt bringt: Nichts bleibt endgültig, immer gibt es ein Danach, zumindest in der Dichtung. So kann es geschehen, dass Gestalten aus einem Gedicht im nächsten „wieder erwachen“, dass der Tod nur eine Zwischenstation sei, ein Nachtzug in ein anderes Gedicht. Eine nahezu mythische Wiederkehr prägt die Bildwelt: Baumstümpfe kehren aus lang vergangenen Schlachten zurück, das lyrische Ich betritt „die Welt durch den Ausgang“, und selbst wenn „einmal gestorben wird, dann lebend und mit einem Rollkoffer, den man hinter sich herzieht“. Diese verquere Logik entzieht der Vergänglichkeit ihren Stachel, ohne sie jedoch zu verleugnen – ein Balanceakt, der an Nietzsches amor fati ebenso denken lässt wie an Bachmanns versehrte Nachkriegswelt, in der kein Ende je wirklich ein Ende ist.

Kochs Sprache ist dabei von bestechender Klarheit und Präzision – fernab des hermetischen Dunkels mancher Celan-Epigonen oder modischer Lyrikbeliebigkeiten. Seine Bilder sind zugleich simpel und überwältigend prägnant, oft in nur wenigen Worten entworfen. Oft genügen wenige Zeilen, um einen ganzen Kosmos zu evozieren – etwa in diesen Versen:

Wie riesige Bestatter tragen die kahlen Alleen

 den Himmel auf ihren Schultern aus der Stadt.

 Und wir vergraben die Toten

 und unsere Erinnerungen an sie.

In diesem starken Gleichnis – ich meine unwillkürlich den Titanen Atlas und die himmlische Sphäre vor mir zu sehen – werden Trauer und Weltuntergangsstimmung in eine alltägliche Szenerie gegossen: Die entlaubten Bäume einer Herbstallee verwandeln sich in Leichenwagenfahrer, die den Himmel selbst fortschaffen, als ginge ein Zeitalter zu Grabe. Unmittelbar darauf folgt die ernüchternde menschliche Perspektive: „Und wir vergraben die Toten / und unsere Erinnerungen an sie.“ Koch versteht es meisterhaft, vom Erhabenen ins Bodenständige zu wechseln, Pathos mit Lakonie kurzuschließen. In solchen Momenten fühlt man sich an Ingeborg Bachmanns berühmtes Diktum erinnert, die Wahrheit sei dem Menschen „zumutbar“ – Koch mutet uns die Wahrheit der Vergänglichkeit zu, aber er präsentiert sie in Bildern, die wir auszuhalten lernen, weil sie uns zugleich verblüffen und zum Schmunzeln bringen.

Tatsächlich durchzieht ein feiner, oft schwarzer Humor den gesamten Band. Des eingangs erwähnten sprachspielerischen Stoßseufzers „Sag zum Abschied leise Versfuß, Tod!“ ist dafür nur ein Beispiel. In einem anderen Text wird etwa berichtet, man habe eine verunglückte Drohne „verletzt am Wegrand“ gefunden und liebevoll gesund gepflegt („aufgepäppelt“), bis sich herausstellt, dass sie „tragend“ war – man öffnet also behutsam ihren Rumpf, „um zu retten, was an neuem Leben drin war: Vogelperspektiven.“ Solche Passagen vibrieren zwischen absurdem Witz und existentiellem Ernst. Die Drohne – Sinnbild unserer hochtechnisierten Welt – wird zum hilfsbedürftigen Tier, ja beinahe zum werdenden Mutterleib erklärt, und gebiert am Ende nichts Greifbares als eine Metapher (die Vogelperspektive). Hier zeigt sich Kochs spielerischer Umgang mit Bedeutungen: Er nimmt Bilder beim Wort, treibt Redewendungen in eine buchstäbliche, surreal-komische Erfüllung, die an die groteske Fantasie eines Hans Magnus Enzensberger in dessen satirisch-gesellschaftskritischen Gedichten erinnern mag. Gleichzeitig steckt in solchen Versen eine leise Melancholie über die Verlorenheit des Menschen in der Moderne – eine Stimmung, die an die Nachdenklichkeit eines Rilke erinnert, wenn auch gänzlich ohne dessen mystischen Überschwang.

Neben der großen Thematik von Tod und Weiterleben widmet sich Koch auch den kleinen, intimen Momenten der Erinnerung. Immer wieder blitzen Szenen der Kindheit auf – allerdings so, als betrachte man sie durch milchiges Glas, aus großer zeitlicher Distanz. Diese Erinnerungsfragmente wirken traumhaft verzerrt und doch emotional wahr. Da ist beispielsweise das Bild eines Fünfjährigen, der im Reisekoffer mitgenommen wird – ein zugleich skurriles und rührendes Sinnbild dafür, wie die Vergangenheit buchstäblich mitgeschleppt wird. Koch weiß um die trügerische Natur der Erinnerung: „Die Kindheit taucht plötzlich wieder auf, die eigene“, heißt es sinngemäß, „doch heute wird sie ganz anders betrachtet, weil sie immer weiter entfernt ist. Da spielen Erinnerungen mir Streiche, halten mir fest. “So zeigt die Lyrik dieses Bandes auch die Zeit als tückisches Kontinuum, in dem wir pendeln – als wären wir, wie einer von Kochs Gedichtsprechern, „Pendler zwischen Einst und Jetzt auf der Suche nach Analogien“. Dieser Pendler ist natürlich ebenso der Dichter selbst, der in Analogien – also Vergleichen und Metaphern – den Zusammenhang zwischen dem Gestern und dem Heute, zwischen Diesseits und Jenseits, herzustellen versucht.

In diesem Sinne reflektiert Ulrich Koch in Letzte Hilfe Kurs immer wieder seine eigene Poetik. Er tut dies jedoch ohne jede trockene Theorielast, sondern mit augenzwinkernder Selbstironie. „An meinen größten Fehler erinnere ich mich vage: mit dem Schreiben begonnen zu haben. Schwach angefangen, stark nachgelassen“, lässt er das lyrische Ich an einer Stelle resümieren. Ein Satz, der natürlich kokett lügt – denn schwach angefangen hat hier nichts, im Gegenteil: Seit Koch 1995 seinen ersten Gedichtband veröffentlichte, hat er ein stetig wachsendes, vielfach bestauntes Œuvre geschaffen. Die scheinbare Resignation solcher Verse verbirgt in Wahrheit jenen „unbedingten Drang“, immer weiterzuschreiben, den der Band selbst ausstrahlt. „Jedes letzte Gedicht“ – man kommt darauf zurück – „ist immer ein vorletztes“: Solange noch ein Atemzug bleibt, wird die Poesie nicht enden. Jedes Ende birgt einen Neuanfang, sei es in der Kunst oder im Leben.

Mit Letzte Hilfe Kurs beweist Ulrich Koch eindrücklich, warum meiner Meinung nach seine Dichtung zu den bedeutendsten Stimmen der deutschsprachigen Gegenwartslyrik zählt. Er fügt dem Kanon der Todespoesie einen eigenen, unverwechselbaren Ton hinzu – einen Ton, der memento mori und Lebensbejahung auf wundersame Weise vereint. In einer Zeit, da vieles in der Lyrik entweder in hermetische Privatwelten abdriftet oder sich in gefälligem Klangspiel erschöpft, setzt Koch auf inhaltliche Substanz und formale Könnerschaft. Seine Verse sind kompositorisch durchdacht – mal gereimt, mal im freien Rhythmus, doch immer mit sicherem Gespür für Klang und Kadenz. Zugleich sind sie unmittelbar verständlich, ohne je simpel zu sein. Diese seltene Kombination mag an große Vorbilder denken lassen – etwa an Hans Magnus Enzensbergers Fähigkeit, komplexe Ideen in klarer Sprache zu formulieren, oder an die melancholische Welthaltigkeit eines Rilke oder Trakl. Doch Kochs Poesie ist ganz und gar eigen: durchdrungen von eigener Bildsprache, eigenem Witz und ganz eigenem Glanz.

Am Ende dieses lyrischen „Kurses“ steht der Leser bereichert und berührt da, stehe ich als Leser bereichert und berührt da! Vielleicht mit feuchten Augen und einem Lächeln zugleich. „Letzte Hilfe Kurs“ erinnert mich daran, dass Poesie die letzte Hilfe sein kann – im Angesicht der Sterblichkeit, der Trauer, der Zeit. Kochs Gedichte bieten keine billigen Tröstungen; vielmehr geben sie jener paradoxen Menschenerfahrung eine Stimme, dass gerade im Annehmen der Endlichkeit eine ungeahnte Lebensfülle liegen kann. In seinen besten Momenten erreicht dieser Band eine poetische Dichte und Wahrhaftigkeit, die weit über das Zeitgenössische hinausweist. Man möchte meinen, hier habe jemand die Welt tatsächlich „durch den Ausgang betreten“ – und uns in blendender Helle und dunkler Ahnung ein Stück weit mitgenommen, auf dass wir die Augen offen halten bis zum letzten Vers. Es hat mich tief berührt und in meinem Verständnis von Lyrik als einem Mittel zur existenziellen Erkenntnis bestätigt. Kochs Verse lassen mich spüren, wie nahe Sterblichkeit und Lebensfülle beieinander liegen. In diesem Sinne empfinde ich Kochs Gedichte als echte „letzte Hilfe“ – berührend, klug und in ihrer poetischen Klarheit nahezu einzigartig.

Ulrich Koch:
Letzte Hilfe Kurs

Hardcover, 160 S., 24,00 €
ISBN 978-3-99027-405-7
Salzburg, Jung und Jung, 2
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