Empfehlungen des Monats April 2025: Jakob Leiner: „Gewetter”

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Empfehlung des Monats April 2025 von Florian Birnmeyer,
ausgewählt von Steffen Marciniak:

Jakob Leiner: Gewetter

„Gewetter“ – ein Wort, das in keinem aktuellen Wörterbuch als eigenständiger Eintrag verzeichnet ist. Höchstens verweist das Grimmsche Wörterbuch unter „Gewitter“ auf eine ältere Bedeutungsspanne. Jakob Leiner, geboren 1992, dürfte diesen vielschichtigen Bedeutungsraum im Blick gehabt haben, als er seinem Lyrikband diesen Titel gab. Und tatsächlich beginnt diese Sammlung mit einer Bewegung hinaus in die Natur – genauer: in den Stadtwald von Freiburg im Breisgau, wo Leiner als Arzt lebt und arbeitet.

Die Gedichte sind verortet – mit Datum, Uhrzeit und genauer Ortsangabe versehen, die jeweils den Titel für jeden Eintrag bilden – und folgen einer Route durch zentrale und westliche europäische Landschaften: vom Schwarzwald über Süddeutschland, Pfalz, Harz, München, Dortmund und Berlin weiter nach Frankreich (Metz, La Drôme, Colmar), in die Schweiz (Basel, Berner Alpen), nach Österreich (Wien, Donauinsel), Italien (Triest), in die Slowakei (Bratislava) bis hin nach Wales (Beddgelert, Pwll Deri, Pen-y-Pass). Die Reise endet schließlich wieder im Nationalpark Schwarzwald. Ein poetisches Reisetagebuch entsteht – es erstreckt sich über fast ein ganzes Jahr: vom 2. Juli bis zum 30. Juni.

Doch Gewetter ist mehr als ein Reiselogbuch. Es ist eine poetische Bestandsaufnahme dessen, was Natur sein kann: Wetter, Wandel, Widerhall menschlicher Existenz. Die Gedichte wirken präzise, teils protokollartig, zugleich offen für atmosphärische Schwebezustände. Natur erscheint nicht als bloße Kulisse, sondern als lebendiges Gegenüber – betrachtet vom lyrischen Ich mit einem Blick, der zwischen wissenschaftlicher Genauigkeit und poetischer Durchdringung pendelt. Leiner beschreibt, ohne zu erklären; benennt, ohne festzuschreiben; hält fest, ohne zu fixieren. Die Sprache ist reduziert, verdichtet – oft auf das Wesentliche beschränkt:

freundliche
Cirrocumulus honigwabenartig
(also lacunosus)
mehrere Kilometer tiefer
ein Bussard im Rüttelflug
zu Dunggeruch und Glockenschlag
der Weidekühe
wegständig
circa fünfundzwanzig Grad.

Der Titel Gewetter wird auf mehreren Ebenen eingelöst: Leiner dokumentiert meteorologische Zustände – oft akribisch, fast protokollhaft – und macht zugleich die tiefere Bedeutungsebene des Wetters sichtbar: das Klima. Seine Gedichte zeugen vom Bewusstsein für eine sich wandelnde Welt. Der Klimawandel ist in ihnen nicht bloß Thema, sondern Grundlage der poetischen Reflexion:

Paris
42,6o
Lingen/Ems
42,6o
Begijendijk
41,8o
Gilze-Rijen
40,7o
Luxembourg
39o
Cambridge
38,7o

 pulverisierte Höchstwerte
(es ward akribisch Buch geführt)
dann
stürmischer Abzug mit Temperatursturz

Hochs und Tiefs, benannt mit Namen wie „Vincent“ oder „Yvonne“, durchziehen die Sammlung. Doch sie sind keine bloßen Wetterphänomene, sondern Symptome einer größeren Veränderung. Leiners Lyrik lässt sich auch als Versuch lesen, in einer aus dem Gleichgewicht geratenen Welt neue Haltungen zu finden – eine Beziehung zur Natur, die nicht vom Begriff der „Umwelt“ geprägt ist, sondern vom Gedanken der Welt, in der der Mensch nicht Zentrum, sondern Teil eines Ganzen ist.

Immer wieder schwingt in Leiners Gedichten ein klassischer Impuls mit: das Bedürfnis, Ordnung zu schaffen, zu beobachten, zu katalogisieren. Natur wird in Daten gefasst, in Begriffe übersetzt, in wissenschaftliche Klassifikationen überführt. Und doch entzieht sie sich immer wieder – wie ein Echo, das nicht zurückkehrt. Besonders in den passagenweise aufgelösten, assoziativ gestaffelten Listen zeigt sich diese Unerfassbarkeit:

Sternsystem
            Rückgrat
                        Rasen
                                   Gebärmutter
                                               Frisbee
                                                           Scheibenwelt
                                                                       Gegensatz
                                                                                   Milchstraße
                                                                       Wolke
                                                           Gewinde
                                               Riss
                                   Lochzentrum
                        Balkenspirale
            Brane

Leiners Band gewinnt seine Kraft aus der Natur selbst – und aus dem genauen Beobachten.

Jakob Leiner:
Gewetter

Broschur,104 S., 18,00 €
ISBN 978-3969820575
Quintus-Verlag, Berlin 2022