Empfehlung des Monats · Mai 2021
von Ralph Grüneberger
Hab ich vielleicht der Meinung widersprochen,
Die eine zeitlang galt als unfehlbar. (J.R.B.)
Vor genau 130 Jahren, im Mai 1891, kam in München Hans Robert Becher zur Welt und begann als 20-Jähriger eine literarische Karriere. Vor genau 100 Jahren schloss sein Verleger Kurt Wolff seine in Leipzig begründete Buchreihe „Vom jüngsten Tag“, die neben Johannes R. Becher, Georg Heym, Georg Trakl, Franz Kafka, Walter Hasenclever als Autoren auswies.
Viel gegenwärtiger ist, dass mir genau vor 40 Jahren der Vortrag eines (sagen wir patriotischen) Becher-Gedichtes verboten wurde, das eine Huldigung Deutschlands war, besser gesagt Gesamt-Deutschlands, einen Begriff, den es zur Zeit der Entstehung des Gedichts in dem Sinne nicht gab. Der Hintergrund für die Auswahl war, dass wir Studenten (m/w) des Literaturinstituts Johannes R. Becher zu Ehren unseres Namenspatrons und aus Anlass von dessen 90. Geburtstag ein Programm mit seinen Texten erarbeiteten. Irgendwie passte es dazu, dass, nachdem der von Becher verfasste Text der Nationalhymne seit Jahren in der DDR nur noch intoniert und nicht mehr öffentlich gesungen werden durfte, auch in sein lyrisches Werk eingegriffen wurde. Mit etwas Souveränität wäre ein Gedicht in seiner Zeit betrachtet worden. Und wenn es denn darüber hinaus wirkt, gilt es für mein Empfinden als gelungen.
Eben diese Souveränität bringt der Jenenser Jens-Fietje Dwars mit. Der Becher-Biograph (beim Aufbau Verlag) ist als Redakteur, Literaturkritiker, Filmchronist, Ausstellungskurator, Buchgestalter und Autor ein vielbeschäftigter Literaturmensch. Und vor allem aber ist er eines, er ist Herausgeber. Als solcher ist er eine Säule des quartus-Verlages, der seinen Sitz in Bucha hat, das in der Nähe von Jena zu finden ist. Der 1000-Einwohner-Ort verdankt seine Bekanntheit diesem Verlag und dem nach ihm benannten Autobahnanschluss.
Eines der erfolgreichen Bücher aus eben diesem Verlag, in dem Dwars die an Kurt Wolff geschulte Buchreihe „Edition Ornament“ betreut, sind die „Ahrenshooper Gedichte“ von Johannes R. Becher, die unter dem Titel „Wolkenloser Sturm“ unlängst eine 3. Auflage erlebten. Jens-Fietje Dwars macht dabei mit einer weiteren Passion bekannt, der Fotografie oder besser gesagt mit der Fotografik, denn viele seiner zu Bechers Gedichten gestellten schwarz-weiß Fotografien zeigen Motive, die nicht gefunden, sondern erfunden sein könnten.
Der 25 Gedichte umfassende Ostsee-Zyklus, der einen Zweifler und einen Verzweifelten zeigt, entstand, beginnend 1946, in einem Zeitraum von fünf Jahren. Und das umfasst jene Zeit, als Becher mit ansehen musste und das auch tat, dass der von ihm gegründete „Kulturbund zur demokratischen Erneuerung Deutschlands“, laut Manifest „als unabhängige und überparteiliche Bewegung“ gegründet, immer mehr auf die Linie der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands gebracht wurde. „[…] ist es ein Akt der Selbstbehauptung, wenn wir uns gegen jeden Eingriff seitens einer Partei aufs entschiedenste wehren“, hieß es noch im Juli 1947. Aber der geschwächte und auf Harmonie bedachte Kulturbund-Präsident und spätere Kulturminister Becher, nach 12 Jahren Exil in ein zerstörtes Land heimgekehrt, war nicht der Mann des Widerspruchs, das waren im Einzelnen eher seine subversiven Verse.
In einem Essay des 80 Jahre nach Becher gleichfalls in München geborenen Historikers Nikolaus Brauns aus dem Jahre 1994 heißt es: „In den letzten Jahren wurde neben dem Bild des linientreuen Apparatschik auch noch ein anderes Becherbild gefunden. In seinem Nachlaß tauchten einige Verse und Textausschnitte auf, die Kritik an den Erscheinungen des Stalinismus erkennen ließen. Nach außen hin treuer Parteisoldat, hatte der erste Kulturminister der DDR in seinen letzten Lebensjahren längst nicht mehr die Illusionen vom Sozialismus und dem ‚Paradies der Werktätigen in der Sowjetunion‘, die seine am laufenden Band veröffentlichten Gedichte vorspiegelten.“ Eine Entdeckung, die sich dem Leser der „Ahrenshooper Gedichte“ nicht minder bietet. Lässt sich doch das poetische Gedächtnis vom Propagandisten auf Dauer nicht lähmen oder gar vereinnahmen. Willkürakte der sowjetischen Besatzungsmacht wie die Verhaftung und die Verurteilung zu Zwangsarbeit von jungen Menschen, die der Erneuerung – dem Auferstehen „aus Ruinen“ – abhandenkamen, blieben auch ihm nicht verborgen. Und doch wäre Becher nicht Becher würde der These und Antithese nicht immer wieder auch die Synthese folgen.
Johannes R. Becher, Wolkenloser Sturm. Ahrenshooper Gedichte
Hrsg. Jens-Fietje Dwars, Edition Ornament im quartus-Verlag, Bucha bei Jena 2020
Mit 25 Schwarz-weiß-Fotografien und einem Nachwort
von Jens-F. Dwars
Japanische Blockbindung in Festeinband mit Schutzumschlag,
64 S., 18 EUR (D) / 18,50 EUR (A)
ISBN 978-3-947646-14-2
zu bestellen beim Herausgeber
Die Überlegenheit eines Schriftstellers einem anderen gegenüber beginnt damit, daß er die Werke des anderen zur Kenntnis nimmt. Die Unterlegenheit eines Schriftstellers einem anderen gegenüber beginnt damit, daß er versäumt, die Werke des anderen kennenzulernen … (Johannes R. Becher, „Bemühungen I“)