Das Leipziger Liederbuch in Neufassung: Zeitzeugnis subversiver Literaturgeschichte

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Empfehlung des Monats · November 2017

Franziska Röchter

von Franziska Röchter

 

 

 

 

„Das Leipziger Liederbuch, auf dessen vielfache Aufführung wir aus sind, ist kein getöntes Leipzig-Bild. Als Stadtführer wird es nicht zu gebrauchen sein …“, so schrieben die Text- und Ton-Autoren des Liederbuches, Ralph Grüneberger und Walter Thomas Heyn, bei der Ankündigung der Erstfassung 1987 und verwiesen auf ein „Leipzig am Rand“ und „dicke Luft“, die Gegenstand der Texte, ab 1985 entstanden, seien. Seinerzeit fiel der fromme Wunsch der beiden Autoren noch der Zensur zum Opfer, eineinhalb nicht-öffentliche Aufführungen (ja, eines war nur eine Teilaufführung) vor ausgewählten geladenen Gästen, eine im Gewandhaus zu Leipzig, die gestutzte Version in der Alten Handelsbörse, zeugen von nur einigen Konsequenzen, die Produzenten kritischer oder vermeintlich kritischer Texte damals in Kauf nehmen mussten.
Nun wird genau 30 Jahre später unter anderen Vorzeichen eine Wiederbelebung des Leipziger Liederbuches in einer Neufassung mit zusätzlichen aktuellen, zeitbezogenen Texten gewagt.
Grund genug, einen Blick in dieses Zeugnis Leipziger Zeit- und Literaturgeschichte zu werfen …

Man sollte wissen, dass es sich bei dem 1987 veröffentlichten Leipziger Liederbuch um eine Auftragsarbeit des VEB Kombinat GISAG handelte, die „Texte der einzelnen Lieder sollten einen geschlossenen Themenkomplex widerspiegeln und den sozialistischen Alltag realistisch, bezogen auf Leipzig, aber auch verallgemeinerungswürdig, darstellen.“
Dass das nun erschienene „neue“ Leipziger Liederbuch durchaus auch als ein Beitrag zur Aufarbeitung der SED-Diktatur verstanden werden kann, wird bereits durch die Dankesworte im Eingang vermittelt. Im  abermals abgedruckten Vorwort der Originalausgabe von 1987 erfahren wir von den beiden Leipziger Autoren Ralph Grüneberger (Text) und Thomas Heyn (Musik), dass die kontrastreichen musikalischen Stilmittel, sowohl einfacher als auch kunstvoller Art und zeitgenössischen sowie hergebrachten Einflüssen aus verschiedensten Genres unterworfen, sowie ebenfalls aus dem Theater eingebrachte Elemente dem Text in seiner Gesamtaussage schlussendlich untergeordnet seien, aber diese unterstreichen sollen.

Teil 1 (1987)

Im ersten Teil sind die Texte des ursprünglichen Liederbuches von 1987 abgedruckt. Dass ein einfacher Liedtext mit dem Titel „Blaugelber Himmel“, in dem auch die weniger schönen Seiten einer Stadt besungen werden, mit dazu beigetragen hat, Aufführungen zu verhindern, mag heutigen Zeitgeistern, die das DDR-Regime nicht selbst miterlebt haben, schwer nachvollziehbar erscheinen.

Leipzig, du bist keine Schönheit
Deine Haut ist schon viel zu grau
Du rauchst dich kaputt auf Lunge
Bist schon so gelb unterm Blau.

Zu hören ist überall Arbeit
Gearbeitet wird um die Uhr …

Nicht nur im Text Leipzig am Rand geht es um Dörfer, die „sterben vor der Zeit“. Der Niedergang des Idyllischen wird besungen, die Errungenschaft des Fernsehens, die einen Rückzug ins Private, in die eigenen vier Wände nach sich zieht, wird in kausalen Zusammenhang mit dem Untergang von Dorfkneipen als Ort der Geselligkeit gestellt. Ein Bild des Leipzig in der zweiten Hälfte des vergangenen Jahrhunderts wird gemalt, einfaches Wohnen, Arbeit und die Befriedigung der Grundbedürfnisse stehen im Vordergrund. Zeitgeschichtlich interessante Schwarz-Weiß-Fotos einer immer noch vom Krieg teilweise zerstörten Stadt mit skeptisch dreinblickenden Kindern auf Baustellenbrettern oder auf Wrackteilen eines alten Trabbi zeigen ein Leipzig zwischen Zerstörung und Neuanfang, Liedertexte, in denen Wirtshäuser das Zuhause ersetzen und Gedichte wie Straße im Leipziger Osten I vermitteln eine Lebenswirklichkeit zwischen desolaten Wohnsituationen, dem Warten auf die Heimkehr vermisster Personen und Wohnortwechseln, die immer auch mit Hoffnung verbunden sind.

Teil 2 (2017)

In Teil 2 (2017) werden einige Texte von 1987 wieder aufgegriffen, aber auf die Jetztzeit umgeschrieben. Was sich vordergründig positiv anhört („Leipzig, du neue Schönheit“ in Weiter Himmel), entpuppt sich beim Weiterlesen zwar als „fast zur Ruine“ verkommen, jedoch immer auch als heimatgebendes Zuhause. Bücher lesen ist eher eine Beschäftigung der Minderheit. Die Fortschreibung des Textes Straße im Leipziger Osten, nunmehr II, zeugt vom Wandel hin zur allgegenwärtigen Kommerzialisierung („Aus den Häusern sind Immobilien geworden“) und von der Hoffnung auf das große Glück („samstags fällt das Wort / Von den Lottomillionen“). In Straße im Leipziger Osten III ist die Straße ein Anschauungsobjekt für Bustouristen geworden, während das Tragen von Militarylook auch für Mädchen nichts Außergewöhnliches mehr ist. Volkszählung, Jüdische Friedhöfe, die Umgestaltung des Karl-Marx-Platzes 1968, veränderte Arbeitsbedingungen – vielfältig sind die Themen, die Grüneberger in seinem Liederbuch aufgreift. Der Text 1989: Leipzig, Keine Gewalt  z. B. beschreibt die Montagsdemonstrationen, die ein bedeutender Bestandteil der Friedlichen Revolution in der DDR im Herbst 1989 waren, Massendemonstrationen, die ab dem 4. September 1989 in Leipzig stattfanden.

Originale Presseartikel aus dem letzten Jahrhundert, Notenbilder ausgewählter Lieder, Thomas Schinköths (der Autor war zu der Zeit Student im Fachbereich Musikwissenschaft / Musikpädagogik an der Karl-Marx-Universität Leipzig) ausführliche Anmerkungen zu den musikalischen Kompositionen Thomas Heyns und deren Umsetzung sowie Ralph Grünebergers detaillierter Rückblick Gelebte Zensur machen das neue Leipziger Liederbuch zu einem hochinteressanten Zeugnis Leipziger Geschichte. Dass eine Buchveröffentlichung erst „nach zwei internen Verlags- und einem (und mitunter auch zwei) Außengutachten“ möglich war und „außerdem abhängig war von der abschließenden Druckgenehmigung, die in der Hauptabteilung Literatur beim Ministerium für Kultur erteilt wurde“, ist ein für unsere jetzige selfpublishing-verwöhnte Generation unglaublicher Vorgang. Die literarische Entwicklung unter Freisetzung subversiver Kräfte des Lyrikers Ralph Grüneberger in einer von ihm selbst als „gemäßigte Diktatur“ beschriebenen und vor weniger als 30 Jahren noch existenten DDR, in der der Autor das „schwächste Glied in der Veröffentlichungskette“ war,  liest sich für mich so spannend wie ein Krimi.

Um es zusammenzufassen: Zu lesen und zu hören sind Gedichte und Lieder mit einer Haltbarkeit von mehr als 30 Jahren sowie eine Erweiterung mit dem Bezug zur Gegenwart. Darüber hinaus findet man auch jene Texte im Buch, die einer Totalzensur oder „Verschönerungen“ zum Opfer gefallen  waren.

Bestellungen richtet man am besten direkt an kontakt@lyrikgesellschaft.de oder wendet sich an eine Buchhandlung des Vertrauens.


(c) Franziska Röchter

 

 

 

 

Ralph Grüneberger, Foto Torsten Hanke
Walter Thomas Heyn, Foto privat

Ralph Grüneberger, Walter Thomas Heyn
Leipziger Liederbuch. + 2 CDs
Lieder, Gedichte, Dokumente, Notenbilder,
Fotografien und Essays
(in einmaliger und limitierter Auflage!)
Edition kunst & dichtung, Leipzig 2017
114 S., gebunden.
ISBN 978-3-937264-33-2
24,90 €