Empfehlung des Monats · Dezember 2020
von Jule Weinrot
DAS GEDICHT. Zeitschrift / Jahrbuch für Lyrik, Essay und Kritik.
Die Wiederentdeckung der Liebe (Band 28)
Seit nunmehr 28 Jahren bereichert die buchstarke Zeitschrift / Jahrbuch für Lyrik, Essay und Kritik DAS GEDICHT nun schon die lyrische Welt der Dichter*innen und Poet*innen. Da müssten doch alle Themen bereits vorgekommen sein, könnte man denken, und gerade DAS Thema der Poesie schlechthin, die Liebe, hat es doch schon in früheren Jahren geschafft, thematischer Dreh- und Angelpunkt dieser heiß erwarteten Jahresausgabe zu sein. … Ja … Aber nicht genau so. Nicht in solchen Zeiten. Der Stellenwert des einzig Wahren, des Wichtigsten, des wirklich Systemrelevanten in Zeiten von Durchseuchung, Infektion, Siechtum, Krankheit und drohendem Sterben ist unbestreitbar. Kaum ein anderes Thema wäre wirklich geeigneter gewesen, um von den alles überschattenden Coronawellen einmal wegzukommen.
Ein vielseitiges Potpourri unterschiedlichster lyrischer Formen bewegt sich hier durch die Weiten aufkeimender, drängender, verebbender und beständiger Liebe, die sich durch ein Kapitel Kinderlyrik (Liebe wächst) ins nahezu Grenzenlose dehnen … Entdecken lässt sich so einiges: Neben einem kaleidoskopischen Intermezzo bewährter und äußerst bekannter Poetenstimmen, die es verstehen, durch ihre Verse dem Geheimnisvollen und Unergründlichen, dem Rätselhaften des Phänomens Liebe nachzuspüren (das versteht übrigens der geniale Grafiker und Covergestalter ebenso) oder es durch unverbrauchte Bilderwelten heraufzubeschwören, gibt es auch durchaus Explizites, manchmal sehr Direktes zu lesen, das im Gesamtzusammenhang auch schon mal mehr oder weniger ins unfreiwillig Komische abrutschen kann – wenn beispielsweise von „steilen Spitzen“ auf Hügeln im Zusammenhang mit „Wohlfühlstöhnen“ die Rede ist oder „Schwanz in Spalte stecken“ erträumt wird … geschmacklich ist hier wohl für nahezu Jeden etwas dabei.
Man möchte Lieblingsverse zitieren, Lieblingsdichter benennen, das aber würde zum Schwelgen in und Anschwellen dieser Empfehlung (ver-)führen. Deshalb der Rat: Begeben Sie sich selbst auf eine wunderbare Entdeckungsreise durch die faszinierende Welt der Liebe und ihrer Spielarten – eine kurzweilige, anregende, beSinnliche und/oder berührende, humorvolle und bisweilen sehr nachdenkenswerte Lektüre wird Ihnen sicher sein! Dass abermals ein nennenswerter Anteil an Mitgliedern der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik Eingang in DAS GEDICHT gefunden hat, darf freudig erwähnt werden.
Tipp: Ein sehr gutes Weihnachtsgeschenk! Einzeln oder im Kurz-Abo.
Das Gedicht. Zeitschrift /Jahrbuch für Lyrik, Essay und Kritik /
Die Wiederentdeckung der Liebe
Herausgegeben von Anton G. Leitner
Mit einem Special für Kids,
zusammengestellt von
Uwe-Michael Gutzschhahn
Erschienen: 18.11.2020
Anton G. Leitner Verlag, 208 Seiten
ISBN 9783929433869
Euro 15,00
Empfehlung des Monats · Dezember 2020
von Jule Weinrot
Friedrich Ani, Die Raben von Ninive – Balladen, andere Gedichte und ein Zwiegespräch
Auf diesen neuen Gedichtband von Friedrich Ani muss man sich einlassen wollen. Dieser 3. Gedichtband (2009: Mitschnitt, 2017: Im Zimmer meines Vaters) jenseits der frühen Jahre des wohl bekanntesten deutschen Krimiautors und Drehbuchschreibers (Tatort) fordert etwas Konzentration in unserer schnelllebigen Zeit – eine Ballade, die über 8 Seiten geht, ist nun mal kein Haiku. Man muss in die Welt dieses vielseitigen Dichters eintauchen wollen, seine Sicht auf die Dinge, auf sozial-politische Schieflagen, näher erkunden wollen … dann wird man belohnt. Dieses Buch changiert zwischen politischer Meinung und sehr Privatem, fast Intimem, und auch die Formen wechseln von sehr ausladenden Lied-Lyrics bis zum relativem Kurzgedicht.
Mit diesem Gedichtband gelingt Friedrich Ani eine interessante Verquickung seiner unterschiedlichen von ihm bedienten Genres und Vorlieben, hier gibt es sogar zur Balladenform verdichtete Kriminalfälle, hier gibt es Dramen und Tragödien, Vermischungen von Erzählung und Poesie, die Goethes vielbemühten Vergleich der Ballade mit einem „lebendigen Ur-Ey“ und seine Bezeichnung der Mischgattung als „gegenständliche Dichtung“ in die kulturpolitische Funktion der Ballade verweist. Ani erzählt Geschichten in Versform, mit Reim und Rhythmus, Geschichten, die in ein Korsett gefüllt werden, um nicht auszuufern, er erzählt von seiner Heimat, die offensichtlich eher eine Art zweite Heimat für ihn war oder auch keine, aus der es auszubrechen galt, und von seiner Suche nach einer Heimat im Offenen, nicht Einengenden.
Dass Ani irgendwann den Norden, die Nordsee, die Weite des Meeres für sich entdeckt hat, spiegelt sich u.a. in sehr persönlichen Texten wie „Der Leuchtturm“ wieder, in dem es um die private, die gefürchtete Enge im Rahmen derjenigen gesellschaftlichen Konventionen geht, die auch Leuchtturm oder Anker im Strudel der eigenen Endlichkeit sein können.
Alles Meer kehrt heim zu dir,
und alles Dunkel bricht entzwei.
Dein Blick gereicht dem Tag zur Zier.
Komm, du Liebe, sieh und sei.
(Backcover)
Ein etwas anderer Gedichtband, der entdeckt werden will – gut geeignet für die Zeit um den Dezember herum – vielleicht auch von solchen Lesern, die sonst eher auf die Verknappung von Worten setzen.
Friedrich Ani, Die Raben von Ninive – Balladen, andere Gedichte und ein Zwiegespräch
Erschienen: 28.09.2020
suhrkamp taschenbuch 5067, Gebunden, 172 Seiten
ISBN: 978-3-518-47067-1
auch als eBook erhältlich
Euro 18,00
Empfehlung des Monats · Dezember 2020
von Ralph Grüneberger
Bernhard Theilmann, Das Geheimnis der Brücken
Posthum veröffentlichte der Dresdner Verlag SchumacherGebler 2019 eine Ausgabe mit Gedichten des 1949 im sächsischen Kurort Rathen geborenen Lyrikers und Redakteurs der von ihm gegründeten Zeitschrift SAX, der 2017 in Dresden verstorben ist. Ich bekam das Buch zugeschickt und hatte gerade wenige Tage zuvor ein Gedicht von Bernhard Theilmann in einer Anthologie gelesen, das neben dem eines bekannten und vielfach ausgezeichneten anderen Dresdner Lyrikers stand. Nicht sonderlich beeindruckt von dem des Prominenten, kam ich schnell auf Theilmanns Gedicht von der „postfrau“, die „mit einem blauen auge“ ihren Dienst tat. Und dieses Gedicht ist mir sehr nah.
Die Auswahl, die Witfrau und Freunde Theilmanns aus einem Manuskriptfundus von fast 600 „gefundenen Texten“ zusammentrugen, enthält eine Zeittafel und – das ist das Besondere – die Beigabe „Biografische Notizen – Bernhard Theilmann“, zusammengestellt von Detlef Krell, als Extradruck.
Diese Schrift macht deutlich, dass ein „Lob von der anderen Seite“, in dem Fall stand das in Springers „Welt“ (die Zeitung, die DDR stets in Gänsefüßchen setzte) und betraf die großartige Obergrabenpresse, nicht immer von Vorteil für jene war, die sich aus dem sogenannten „Tal der Ahnungslosen“ heraus hin zur Anhöhe der Aktiven bewegten.
Bewundernswert die Solidarität der Theilmann-Freunde, die diese Publikation zu Wege brachten. Nun müssen die Gedichte nur noch gelesen werden. Sachsens Stadtbibliotheken sind am Zug.
Bernhard Theilmann, Geheimnis der Brücken
ISBN: 978-3-941209-54-1
16,– €