Christian Lehnert: “Opus 8. Im Flechtwerk”

Veröffentlicht in: Allgemein, Empfehlung des Monats | 0

Empfehlung des Monats März 2024 von Steffen Marciniak

Empfehlung des Monats März 2024 von Steffen Marciniak:

Christian Lehnert: opus 8: Im Flechtwerk

Im Silberrinnsal verflochten — vom Werden und Vergehen

Der überwiegend für seine Lyrik bekannte Schriftsteller Christian Lehnert wurde 1969 in Dresden geboren. Er ist Theologe und Leiter des Liturgiewissenschaftlichen Instituts an der Universität Leipzig. Zu den zahlreichen Auszeichnungen und Preisen gehört der ihm 2012 verliehene Hölty-Preis für sein Gesamtwerk. In der Begründung der Jury heißt es: „Christian Lehnert ist ein besonderer Solitär unter den zeitgenössischen deutschsprachigen Dichtern, denn seine Gedichte strahlen selten gewordene Würde und Schönheit aus. Beharrlich erkundet Christian Lehnert, worin der Ursprung des Seins liegt. Diese Frage durchzieht alle seine Werke und verleiht ihnen eine außergewöhnlich starke poetische Kraft. […] Er wagt abseits von jeglichem zweckorientierten Denken den Gang hinab in eine ursprüngliche ‚Leere ohne Namen‘ und erweitert mit dem von ihm Zutagegeförderten das große Erbe der dichterischen und philosophischen Tradition.“

Um er vorwegzunehmen: mit „Im Flechtwerk“ legt Christian Lehnert auch in seinem neuesten, dem achten Gedichtband ein Meisterwerk der zeitgenössischen Poesie vor. Christian Lehnerts Poesie wird bleiben und wirken, sie ist sprachmächtig und zugleich melancholisch, dabei immer angenehm zeitlos, im besten Sinne schön. Das als „opus 8“ übertitelte Buch erschien 2022 im Suhrkamp Verlag.

Lehnert, der auch das Libretto für Hans Werner Henzes Konzertoper „Phädra“ geschrieben hat, beweist mit und in seinen Gedichten eine ihm tief innewohnende Musikalität. Sie erinnern im Schriftbild mit den gesetzten Querstrichen und den bewusst oder eben auch nicht eingefügten Leerzeichen beinahe an Notenblätter und zeigen eine nachdrückliche Formstrenge.

Das Buch ist eine harmonische Komposition und besteht aus sieben Zyklen. In ihnen befinden sich sieben Gedichtpaare, die sich auf den jeweils linken und rechten Buchseiten gegenüberstehen, jeweils sieben Zweizeiler links und sieben Gedichte mit je acht Versen rechts. Diese Ordnung bildet das „Flechtwerk“, sehr klassisch an eine barocke Zeit erinnernd. Die Sieben ist die in Literatur und Mystik wohl beliebteste Ziffer; erwähnt sei neben vielen Beispielen die Ziffer Sieben auch in der Zahl der Erzengel (Lehnerts diesem Gedichtband vorausgehender Prosaband hieß: „Ins Innere hinaus. Von den Engeln und Mächten“, eine Geschichte der unsichtbaren Welt in einzelnen Blättern“).

Lehnert schafft mit „opus 8“ eine lyrische Hymne an die Natur unter dem Motto „Ein natürliches Buch“. Darin sagt er (in zentrierter Setzung), worum es ihm geht:

Von Pflanzen und Tieren / Mikroben und Steinen in ihren Erscheinungen /

Von ihren Namen / Ähnlichkeiten / Heilkraft und ihrem Atem /

Signaturen in pulsenden Bewegungen / Verletzliche /

Und von dem einen Grund derselben /

Ihrem Werden im Verlöschen /

Soli Deo Gloria.

Jeden der sieben Zyklen läutet Lehnert zudem mit einem Zitat eines Mystikers ein: aus dem jüdischen „Buch Sohar“, Meister Eckhart, Johann Georg Hamann und Jacob Böhme. Die Verwendung traditioneller Stilmittel wie Versmaß und Reim gelingen einem Dichter wie Lehnert spielerisch und man nimmt das bei ihm gern an, weil es ihm meisterhaft gelingt. Bei ihm darf Lyrik wirklich noch „schön“ sein, auch und gerade in unserer Zeit. Trotzdem kann man den Stil des Buches als präzis und knapp, wesentlich und philosophisch bezeichnen. Man freut sich auf jeden neuen Vers und kann die Gedichte am besten genießen, wenn man die Eile beiseite legt und nach jedem Gedichtpaar eine Pause einlegt, und nach jedem Zyklus einen Tag verstreichen lässt. Schnell merkt man, dass dies sogar unerlässlich ist. Wie eben auch die Natur eine lange Zeit für die natürlichen Prozesse aufbringt, das länger als das Dasein einzelner Lebewesen währt. Lehnerts Weihe für die Natur beginnt auf Seite 8 mit dem Zweizeiler „Die Wiesenweihe“:

Die Weihe öffnet sich  dem Sturm/fast ohne Regung.

In Böen steigt sie auf  und ruht in der Bewegung.

Es sind natürlich Menschen, die Dingen, Pflanzen, Tieren, Phänomenen das Schillernde geben, ihre Namen. Und Christian Lehnert entflammt gern für gerade die Namen mit den schönen Bezeichnungen, oft wählt er den Uneingeweihten seltene, kaum bekannte Tier- oder Pflanzenarten als Gegenstand seiner Gedichttitel, wie etwa Isländisches Moos, Kriechendes Fingerkraut, Zunderporling, Goldglänzender Laufkäfer, Hohe Schlüsselblume, Großblütige Königskerze, oder auch Das Kolibakterium, Erdkrötenlarven, Kalkschwamm. Ebenso gibt er sich der Liebe vieler deutschsprachiger Dichter zu Komposita hin, nutzt reichlich gerade jene Naturwesen als Gedichtgegenstand, die aus zwei Worten zusammengesetzt sind: Kriechweide, Pestwurz, Ringelgans,  Rauchschwalben, Bachstelzen, Springschwanz, Schlüsselflechte, Kugelalgen, Walnüsse, Trompetentierchen, Ohrenqualle, Waldameisen, Sumpfkräuter, Tiefenbakterien, Bergahorn, Moorbirke, Kreuzspinne. Er erhöht die Wesen und hebt sie in die Poesie, fort aus der Umgangssprache, in der zumeist nur einfach von Weiden, Birken, Ahorn, Schwalben, Gänsen, Kröten, Quallen und Ameisen gesprochen wird, die Vielfalt der Arten umgänglich sonst kaum erahnt wird. Obwohl also die Bezeichnungen der Wesen von Menschen her stammen, kommt bei Lehnert der Mensch so gut wie gar nicht in den Gedichten vor. Die Lebewesen, über die er schreibt, sind zwar benamt, jedoch spürt man die Selbstverständlichkeit, dass sie ihrer Namen nicht bedürfen, und nicht auf die Existenz des  Menschen angewiesen sind. Auch Haustiere kommen nicht vor.

Besonders auffällig in der Gegenüberstellung der Zwei- und Achtzeiler auf den sich gegenüberliegenden Seiten ist Lehnerts komponierter Dreiklang aus Geburt, Dasein und Vergänglichkeit.

Das Werden eröffnen die Zweizeiler auf den linken Seiten, ein Aufbrechen, Jungsein, Geborenwerden, die Neugier, das Licht und das Heranreifen, wie auf Seite 36: „Mit der Feldlerche“:

Zu steigen in den Laut/  bis alles sich verliert/

Bis nichts dein Eigen bleibt/  der Wind dich erst gebiert.

oder auf Seite 32 „Die Grasfrösche“:

Wie Glast und Glasgefäß/  wie Schein/den man vergißt/

So schwebt der Laich am Grund/  zu werden/was er ist.

Die Achtzeiler auf den rechten Seiten widerspiegeln hingegen das Altern, sprechen von Reife, Vergehen, Tod.

Das Gedicht auf Seite 65 „Die wuchernden Sumpfkräuter“ enden mit:

… Oder

Ist dieses stille Dickicht/Ungestalt

Wovon?/ein Angstschrei/vor der Zeit verhallt?

Ein Blick/das Quellschwarz/folgt mir aus dem Moder.

Weiter lesend, verschwimmt diese scheinbare Eindeutigkeit immer mehr, verflechtet sich die erkannt geglaubt zu habende eindeutige Dreiheit dann auch in den einzelnen Gedichten selbst, wie in einem der letzten Gedichte auf Seite 112, „Das Fossil“:

Ein weißer Stein / darin  die Zeichnung / sie bewahrt

Gewesenes / ein Tier /  noch wie ein Fötus zart.

Was wäre die Natur ohne das Vergehen. Etliche Dichter beschreiben es, sowohl in der Natur als auch metamorphisch auf den Menschen bezogen. Lehnert hingegen hält zwischen Geburt, Sein und Vergänglichkeit immer die Waage. Dennoch überwiegen auch bei ihm die Metaphern zur Vergänglichkeit, allein schon an der überwiegenden Titelwahl zu Komposita von Herbst, Winter, Dämmerung, Abend, Nacht und Mitternacht, wie Glühwürmchen, Die Nacht ist vorgedrungen, Die Herbstspinne, Abendpfauenauge, Zur Nacht, Der Schnee, Winterwald, Winterbienen, Rauhnacht oder Wintergesang der Meisen, Mitternacht, Die Birken im November, Das Grab, An der Lethe und Die Nacht. Dem steht wenig Lichtes bei den Titeln gegenüber: nur Fließendes Licht und Morgendämmern. Und natürlich klingt die Melancholie des Nächtigen, das Träumen im Dunkel, die Erinnerung an das Schöne auch in Lehnerts Vergänglichem wunderbar nach, lädt zum Versinken ein, zu dem, was Menschen in der Liebe zur Poesie suchen, wie die ersten vier Zeilen des Gedichts „Die Nacht“ auf Seite 95:

Das Silberrinnsal/gläsern zieht ein Singen

Bei Nacht von Berg zu Berg in seinem Kreis.

Es ist ganz still/denn die Gestirne klingen

Nur hörbar den Gestirnen.

Christian Lehnert:
opus 8: Im Flechtwerk

Hardcover mit SU,117 S., 22,00 €
ISBN 978-3518430583
Suhrkamp, Berlin 2022