Empfehlung des Monats · Juni 2017
von Michel Ackermann
Der charmante Appell des tieferen Sinns
Der Manesse-Verlag veröffentlicht Lyrik arabischer Dichterinnen vom 5. Jahrhundert bis heute
von Michel Ackermann
In einem aufschlussreichen Essay über Luther zitiert der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Raoul Schrott eben diesen mit einem erstaunlichen (Neben)-Satz, der ein bemerkenswertes Anliegen des Reformators zum Ausdruck bringt: “… daß nicht der Sinn den Worten, sondern die Worte dem Sinn dienen und folgen sollen.“ (*)
Luther will der Eigenmächtigkeit einer poetisch-bildhaften Bibel-Sprache seiner Zeit und ihren sperrigen Formulierungem und Sprachbildern ein Ende machen und die Worte einem klar und für alle verstehbaren Sinn unterwerfen. Ein Sinn, der der höhere Sinn eines unmissverständlich sprechenden Gottes und seiner religiösen Mitteilungen ist und nicht etwa ein Sinn, welcher in gemeinsamem Diskurs von kirchlichen Gelehrten und Denkern zu erkunden und zu ergründen wäre. So war es bis dahin gewesen, doch so soll es nun nicht mehr sein. Das Zeitalter der ›Ideologie‹ begann, in dem gedruckte Sprache in hohen Auflagen ihre Botschaft für die Massen einfach und verständlich zu transportieren hatte und damit (nicht zufälliger Weise) auch das Zeitalter, in dem die gemeinsame Wiege der sprachlichen Kultur zwischen arabischer Tradition und einer griechisch-römischen Aufarbeitung und Übernahme in Theater, Lyrik und Philosophie für lange Zeit der Vergangenheit angehören sollten.
Doch das buchstäblich und wörtlich Verdrängte holt uns wieder ein.
Nur wird die Möglichkeit unserer ›sinnvollen‹ Wiederbegegnung mit gemeinsamen kulturellen Ur-sprüngen auf die religiösen Narrative (und den „bösen“ Islam) reduziert. So ist es wohl auch zu verstehen, wenn der Manesse-Verlag auf der Rückseite des sehr schön gestalteten Lyrik-Bandes in pflichtschuldiger Manier schreibt: “Über fünfzig Autorinnen entwerfen eine weibliche Identität jenseits aller Tabus und Denkverbote und leisten einen poetischen Beitrag zur Debatte über den Islam.“ Der Orient darf reden, aber bitte schön nach westlichem Vorbild: Gender-Diskurs und Islam-Debatte.
Sei’s drum. Aber es leitet den in die Irre, der den wundervollen Inhalt der hier veröffentlichten Poesie angemessen verstehen oder gar bewerben will. Denn die selbstbewusst-klaren und bildstarken Worte der hier versammelten Lyrikerinnen sind genau das nicht: keine ideologisch aufgekochten Ich-Erkundungen im Sinne eines westlichen Feminismus oder religiös verbrämte Zeilen gottesfürchtiger Frauen aus der arabischen Welt. Nein, hier gibt es keine unterwürfige Maria und auch keine Magdalena männlich-religiös verbrämter Eros-Phantasien, sondern die unverblümten Äußerungen von Frauen, deren Identität nicht durch “Abgrenzung-von“, sondern durch “Hinwendung-zu“ entsteht – der Sprache und ihrer magischen Kraft des Appells. Denn hier liegt der tiefere Sinn von Sprache: in ihrer Fähigkeit, ›Eigensinn‹ aus sich selbst und der bildhaften Kraft der Wortzeichen heraus zu finden und erfinden: “Wir beide lebten wie Zweige eines Baums / und wuchsen so, wie Bäume am schönsten wachsen.“
Ist ein so schlichtes wie schönes Bild für ein liebendes Zusammenleben besser denkbar, “sprach“-bar? Und dabei sind der Baum und seine Zweige kein bemühtes und dem Sinn untergeordnetes Symbol. Nein, er ist Ausdruck einer Wahrnehmung, die die um-gebende natürliche Welt ihrerseits als Ausdruck der Liebe und des Lebens begreift und sich in ihm wiederfindet, indem sie diesem Umstand zum Sprechen verhilft. Der Sprache wird zur Geburt im klingenden Sprachbild verholfen. Dafür wird sie nicht benutzt, sondern erhört und als etwas begriffen, das zutiefst mit uns, und unserem eigenen ›Sinn‹ verbunden ist.
Das schließt nicht aus, dass es in solchermaßen poetischen Worten auch deutlich zur Sache gehen kann, denn Sprache besitzt die Kraft der Appell-Funktion in Äußerungen, die auch vor eindeutigen Bewertungen nicht zurückschrecken: “Du willst mich besitzen mit / schwachem Verstand und störrischer Dummheit.“ Oder: “Empfände die Sonne für dich wie ich, sie schiene nicht, / und Mond und Sterne gingen nicht auf.“
Auch vor der körperlichen Eindeutigkeit poetischer Mitteilungen schreckten die wort-bewussten Frauen des poetischen Gesangs nicht zurück: “Heilung von der Liebe heißt Küssen und Umarmen (…) heißt Stoßen, dass die Augen übergehen, / und Zerren an Haut und Haaren.“ Was sollte die Sprache auch schon verschweigen wollen. Oder kann sie das gar nicht, in dieser Tradition arabischer Wortbilder? Ist das Drum-Herum-Reden, das wortreiche Belügen und Verschweigen, das symbolische Umgehen von Wahrheit auch nur eine westliche Tradition ideologischen Sprachgebrauchs, wo Abstraktionen, Verallgemeinerungen, und Manipulationen die klare Anrede stets vermeiden sollen und wollen? Wo die Wörter eben dem Sinn unterworfen werden und nicht umgekehrt? So als ob die Konkretion der Sprache für unsere Kultur längst zu gefährlich geworden wäre. Aber nein, das eine lässt sich nicht vorschnell gegen das andere ausspielen. Ist Sprache doch weniger ein Spiel oder Experiment, als der pure und unverstellte Ausdruck menschlichen Lebens, seiner Liebes- und Leidensfähigkeit: “Die Nacht fragt, wer ich sei. (…) Ich bin ihr rebellierendes Schweigen. (…) Und die Zeit fragt, wer ich sei. (…) Ich schöpfe die ferne Vergangenheit.“
So ist die Zeit – und ihre Physik wird in manchem Vers zur narrativen Metaphysik: “Lass mich an einen fallenden Wassertropfen mich halten.“
Und: “Der Himmel ist blau, / und da ist keine einzige Berührung des Todes, / das Licht fällt auf meine Haut, (…)“
Beeindruckend an dieser Anthologie arabischer Frauenstimmen ist auch der Eindruck, dass die “tönende“ Verbindung zwischen den Jahrhunderte alten Versen und heutigen, zeitgebunden-freieren Worten jedenfalls in der deutschen Übertragung erhalten bleibt (die arabischen Orginalzeichen der Schrift sind dankenswerterweise vom Herausgeber Khalid Al-Maaly mit in die Ausgabe übernommen worden). Im ganzen Band wird eine Tradition und Herkunft von Wortklängen erfahrbar, welche durch neue Stilepochen (auch diese sind wohl eher eine westliche Erfindung) kaum unterbrochen werden können. Zu stark scheint der Sog des arabischen Wortlauts, seiner Wörter, die nicht im Lutherischen Sinn dem ›Sinn‹ dienen, sondern selbst der ›Sinn‹ sind und darin ihre Erfüllung finden.
Die Flügel meines schweren Herzens – Lyrik arabischer Dichterinnen vom 5. Jahrhundert bis heute.von Khalid Al-Maaly (Herausgeber, Nachwort, Übersetzer) und Heribert Becker (Übersetzer)
ISBN 978-3717540922, 192 Seiten, 19,95 Euro, März 2017, Manesse-Verlag
In den Zeilenumbrüchen der Zeit
Marianne Beeses Lyrische Ortsbesichtigungen “Antäus ohne die Erde“
von Michel Ackermann
Orte können nicht in Worten sprechen, aus sich heraus. Nur in Zeichen ihrer Zeit und Geschichte, die auf oder in ihnen hinterlassen wurden, von Menschen zumeist, oder solchen, die mindestens anatomisch als solche zu indentifizieren wären.
Für Worte gleich welcher Art, die solche Orte unserer Welt dokumentieren und ihnen erzählend ihre Geschichte leihen, brauchen diese den beobachtungsbegabten Hominiden, der sie bereist und sich in ihnen und durch sie versprachlichen kann. Diesen Weg schlägt die promovierte Germanistin, Historikerin und Lyrikerin Marianne Beese nicht von ungefähr ein, gehört zu ihren Fachgebieten doch die deutsche Romantik und damit der verinnerlichte Ruf nach der nahen Ferne von Sehnsuchtsorten im Außen und Innen. Anders als oft angenommen, war aber gerade die deutsche Frühromantik der Literatur nie eine der eindimensionalen Weltflucht oder naiven Naturanbetung. Hören wir dazu den Dichter Novalis: “Hinunter in der Erde Schooß, / Weg aus des Lichtes Reichen, / Der Schmerzen Wuth und wilder Stoß / Ist froher Abfahrt Zeichen. / Wir kommen in dem engen Kahn /Geschwind am Himmelsufer an.“ (*) Und hören wir dann Marianne Beese: “Wie hoch hinaus, / nach den Wegen, /hinaufgeschaut, / wo man den / aufragenden Pappeln / die Häuser / entreißen möchte, / die sich nicht wehren, / warum / geht eine Melodie, (…)“
Der Blick nach außen findet im innen die Sprache und ihre Möglichkeit der wortschönen Tracht, die im Menschen Eintracht und Zwietracht bewirken kann, weil innere und äußere Wirklichkeit sich in Erinnerung und erneuter Wirklichkeitsschau wie ein lange verheiratetes Paar stets neu zusammenfinden müssen, ja, nicht anders können, als sich in solch steter Begegnung wieder und wieder zu erkennen und dabei anders kennen-zulernen. Ein wundervoller Prozess, wenn Menschen sich auf diesen einlassen wollen.
Folgen wir noch einigen en passant ausgewählten Stationen von Marianne Beeses Reise zu den Augen-Blicken der Orte und ihren wie innewohnend lauschenden Worten. Die lyrische Reise startet im ostdeutschen Beelitz, einem Städchen, das uns konsumorientierten Post-Hominiden durch den Spargelanbau ein Begriff sein dürfte, aber bei nachholender Wikipedia-Bildung alle Erinnerungsmerkmale der leider immer wieder auch sehr grausamen deutschen Geschichte aufweist. Das wird von der Poetin sparsam, aber deutlich genug beleuchtet: “Doch die Frage / “Angst“ / steht hoch / an einem verwitterten / Haus, zielt auf sich selbst / … oder den dunklen / Julitag, das Ringsum – “
Überhaupt äußert sich Marianne Beeses Lyrik in unumwundener Klarheit, in geradezu digitalen Aus- und Außenblicken von Worten und Sätzen, deren Zeilenumbrüche den lyrischen Rhythmus deutlicher markieren, als mögliche Satzrhythmen selbst: Diese wirken fast visuell, als ob hier eine lyrische Film-Cutterin am Werke wäre.
Reisen wir weiter, streifen wir Sanssouci, das preußische Bauwerk in Potsdam mit römischen Bezügen, um bald tief unter der Erde im Salzbergwerk Berchtesgarden zu landen (“untermeerische Kontinente“), an der Atacama-Wüste in Südamerika vorbeizufliegen und schnell wieder, heimatlicher, in Salzburg einzutreffen (“Wie weit reicht die Sinnreise / jener Kugel (…)“.
Wir folgen dem “Basiliskenblick der Donau“ in Wien, welches in folgenden Gedichten treffenderweise als “Planet, außerhalb (I) und (II)“ betitelt wird und “wo ungewisses Leuchten / über den U-Bahnhöfen / aufsteigt; Passanten / die Wintermützen tief / in die Stirnen / / gezogen haben; (…)“. Prag, Warschau, “Feuerstellen in der Schweiz“ fliegen wortbildreich an uns vorrüber, um mal eben in Gehlsdorf bei Rostock zu landen, Warnemünde zu streicheln, und, genauer lokalisiert, in der Scherlstraße in Leipzig einzutreffen: “Auf die Straße schien / eine eindimensionale Sonne; (…)“.
Mit auf der Reise sind immer mal wieder auch antike Verweise, wie uns bereits der Titel des Gedichtbandes bedeutet. Auch hier bleibt sich die Dichterin als Romantikerin in kosmopolitisch-historisch orientierter Weltsicht selbst und ihren dichterischen Ahnen treu. Über Istanbul, Venedig, und vielen weiteren Anlegemanövern wird es (sonst könnte es keine “Romantik“ sein …) auch kosmisch-planetarisch mit dem Gedicht “Wasser auf dem Mars“. Die Teilnahme der Dichtung ist welt- und auch wissenschaftszugewandt, wie oben vermerkt also das Gegenteil von abgehoben-lyrischer Weltflucht: “Curiosity“ funkt / Signale zur Erde / von Kieselsteinen – / Signale der Fluss- / täler, vielleicht – (…)“.
Doch was bedeuten uns diese reflektierenden, assoziierenden und teilweise irritierenden Sicht-Worte von Marianne Beese, die unsere Erd-Welt umkreist, als suche sie den lyrischen Blick “mit einer Shuttlefähre / auf einen Planeten / “außerhalb“ (…)“, um sich auf diese Weise behutsam und doch unnachgiebig klar-geschnitten und sprachlich-bildhaft in einer überbilderten Welt zurecht zu finden.
Vielleicht kann uns der griechisch-antike Mythos um Antäus weiterhelfen: Denn in ihm kann ein um sich mordender Riese durch Herakles nur besiegt werden, indem ihm die Kraft der Mutter Erde (“Gaia“) entzogen wird: Herakles hebt den Riesen in die Luft, und daraufhin schwinden ihm alle Kräfte. Bezogen auf die hier vorliegenden Gedichte könnte das bedeuten: Der Mensch kann in seiner historischen ›Wut‹ nur durch sich selbst besiegt werden, in dem er die Erde verlässt, ins All vorstößt, und dabei sich selbst verliert, durch den Verlust der Mutter Erde an seine eigenen Grenzen stößt. “Wer will so gehen?“, schreibt Beese, und sie weiß genau, dass nur der durch die Historie voranweisende Blick des Geistes dem Menschen hilft, im Gegensatz zu den lediglich “flirrenden Lichtern“ der Technik.
Marianne Beese: Antäus ohne die Erde, Gedichte.
ISBN, 978-3941683631, 204 Seiten, 12,80 Euro, Juli 2015
Edition federchen, Steffen Verlag