Januar 2022 – Empfehlung des Monats von Jens-F. Dwars
2016 habe ich im Palmbaum für Böhmes Gedichtband Abdruck im Niemandswo geschwärmt. Zwei Jahre später erschien der Band Klavierstimmer auf der Titanic. Der war vielgestaltig interessant, aber sein neuester ist einfach grandios! Der beste, form- und inhaltsreichste Lyrikband, den ich in diesem Jahr zu lesen bekam.
Das Titelgedicht zeigt exemplarisch die Eigenart des Ganzen: Ein Junge mit Papierhut sammelt am Strand, was er findet. Ein Mann mit Strohhut wankt ihm entgegen, sie tauschen ihre Funde aus. Eine Amphibie taucht auf, ein Telefon im Sand, aus dem das Gejammer nie erhörter Anrufer dringt …
Kurz: das Gedicht liest sich wie ein Drehbuch zu einem surrealen Film, genauer: es imaginiert diesen Film, löst ihn aus, lässt ihn in uns laufen, mit wenigen Worten traumhaft verdichtet. Zuweilen auch alptraumhaft, aber das Traurige, die melancholische Grundfärbung, wirkt zauberhaft tröstlich. Wie das Bild vom Mond, der kleine Krater in den Steinwüsten der Städte entdeckt und denkt, sie würden ihm ähnlicher, wenn er nur Geduld habe.
Und umgekehrt kann ein Idyll zum Inbegriff des Schreckens werden, wie im Gedicht Blitzkrieg-Gelände: flaches Land, darüber die Telegraphendrähte summen, ein Scheunentor offen, eine Haustür, alle Türen stehen offen … Offen, ungeschützt, arglos – so ist das Land, bevor Bilder es heimsuchen, die wir zu oft schon gesehen haben.
Großartig die Beschreibung eines anderen Bildes: ein stummer Vulkan, davor ein See, eine Schilfhütte, Mutter, Kind, Fischer. Ein japanischer Druck, zart koloriert, wie man ihn „an die Touristen verkauft / überall in den Zen-Gärten, die von Krüppeln gehegt werden“. Niemand kenne, heißt es am Ende, des Berges heimlichen Namen. Und darüber steht: Sein Name sei Anmut. Mein liebstes Gedicht heißt Vexierbad: Eine Taube weckt den Erzähler (ich sage bewusst nicht: „lyrisches Ich“, denn dieser Dichter überwindet mit Leichtigkeit jegliche Gattungsgrenzen), ihre Stimme erinnert an Jane Birkin, die ihm mit ölverschmierten Händen Kaffee am Tresen einer Tankstellenbar ausschenkt, wo er mit David Bowie steht, der sie auch viel zu dünn findet, den Kaffee und das Mädchen, das der Taube glich, die ihn hindert, wieder einzuschlafen: „Der Morgen roch nach Benzin. Ich war wieder 13 / & von Sternenstaub angefüllt.“
Thomas Böhme
Strandpatenschaft. Gedichte
Neue Lyrik, Bd. 21
Poetenladen Leipzig 2021
176 Seiten