Sehnsucht nach Vollkommenheit

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Gedicht des Monats · Juli 2015

Ivo Andric

Sehnsucht nach Vollkommenheit

Oft sehnen wir uns, dieser Welt
Schritte und Gedanken zu entheben,
und teilen dummen Herzens
das große, göttliche All
in Besseres und Schlechteres ein –
heraus aus zeitlicher Unvollkommenheit
und der großen Sehnsucht, tief und heilig.
In diesem Sehnen sind wir alle heilig,
ein für alle Mal,
der Mensch in seinem Irren
und der Baum im Wunsche nach geradem Wuchs.
Denn die Wahrheit brennt in uns wie Feuer,
wie Feuer verbrämt sie alles und jeden,
den Stolperer und den mit aufrechtem Gang.
Doch Auge und Geist täuschen uns,
wenn wir die Hände hoch erheben
im Wunsche, Fahnenträger zu werden,
im Gedanken, Lichtträger zu sein.
Denn der feurige Ozean, über den alles fährt,
der alles durchdringt, sieht nicht, kennt nicht
den selbstgefälligen Wald unserer Hände,
und niemand notiert es, es gibt keine Spur
von der Unruhe unserer Tage, wenn wir uns
schmerzlich sehnen, dieser Welt
Schritte und Gedanken zu entheben.


Übertragen aus dem Serbischen von Gero Fischer

© The Ivo Andric Foundation, Beograd, SERBIA.

Quelle: Gedichte von Welt. Leipzigs Partnerstädte Poesiealbum neu, Sonderausgabe