Ein Zahlkellner

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Thomas Böhme (*1955)

EIN ZAHLKELLNER hat sich in der Tür geirrt.
Er befindet sich in einem Klassenzimmer
wo Hebräisch für Auswanderer gelehrt wird.
Seine Augen begegnen dem umschatteten Blick
der kleinen Jüdin, die vor mehr als einem halben Jahrhundert
mit ihrem Vater das Café betrat.
Der Mittelsmann, den sie dort treffen sollten
mit den getürkten Pässen und einer Schiffspassage
nach Palästina, war nicht gekommen
oder hatte sie schon an die Gestapo verraten.
Er ist erleichtert, sie am Leben zu sehen
und gibt ihr das verabredete Zeichen:
Das Wechselgeld auf dem Teller in Sternenform angeordnet.
Endlich kann er es ihr erstatten.

 

Quelle:
„Konsum & Kommerz“. Gedichte;
„Poesiealbum neu“ der Gesellschaft für zeitgenössische Lyrik e.V.,
ausgewählt u. herausgegeben von Ralph Grüneberger, Leipzig 2011