Fährten des Grauens, Verwicklungen, Brand vs. Sehnsucht, Mond und Weihnachten

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Empfehlungen des Monats · Dezember 2021


Franziska Röchter zu
Fährten des Grauens

Dieses Buch aus dem Ralf Liebe Verlag dürfte in verschiedener Hinsicht einer der auffälligsten, interessantesten und ausgefallensten Lyrikbände zum Jahresende sein.
 
Horror- und Gruselliteratur in Roman- oder Kurzgeschichtenform gibt es reichlich, und aus der deutschsprachigen Lyrik  hat sie nicht selten Einzug in schulische Lehrpläne gefunden, man denke an Goethes Erlkönig oder Annette von Droste-Hülshoffs Knabe im Moor. So ist es eine sehr ansprechende Idee, etliche markante Exempel dieser tradierten lyrischen Schauerpalette hinten mit ins Buch zu nehmen; mit rund einem Fünftel Buchseiten voller Horrorklassiker u.a. von Georg Trakl, Georg Heym, Gottfried Benn, Christian Morgenstern, Theodor Fontane, Eduard Mörike, Heinrich Heine, Joseph Freiherr von Eichendorff u.v.m. – ein prima Potpourri jener Texte, die unser heutiges Bild von Schauergedichten mit beeinflusst haben – bietet sich ein guter Einblick in das, was in früheren Zeiten als gruselig empfunden wurde, um dann ausführlich in modernem Horror zu stöbern, immer auf der Suche nach thematischer Äquivalenz und Parallelen im Jetzt.

Und so bietet dieser sehr augenfällig in rot-schwarz-weiß gehaltene, von liebevoller Handwerks- und Buchdruckkunst zeugende Leinenband (das Wort Anthologie wäre zwar korrekt, aber trifft m.E. einfach nicht die anspruchsvolle Gestaltung) eine umfangreiche Entdeckungsreise in die zeitgenössische lyrische Welt des Entsetzens, die aus Themen wie Mord, Katastrophen, Naturgewalten, Krieg, Untergang, Geister-, Godzilla-  und Zombiewelten schöpft und somit auch Genres wie  Splatter, Fantasy, Surrealismus und Expressionismus bedient.
Gedichte tragen Titel wie hungerland, inferno, Bergen-Belsen, der hurrikan, Kehlkopfspiegelung, vorbereitung für den ernstfall

Beim ersten losen Durchblättern springen mir spontan zwei Gedichte ins Auge: Die 78 von Matthias Kröner über unseren zynischen und an Brutalität und Gewalt nicht zu überbietenden Umgang mit Tieren (hier Hühner in Massentötungsanlagen) sowie das kind von Reinhard Henning über die m.E. gnadenlose Abhängigkeit und das Ausgeliefertsein zerbrechlicher Kinderseelen in einer von subtilem und oftmals unaussprechlichem Horror durchtränkten Erwachsenenwelt. Man möchte hoffen, zum Jahresende in Muße jedes einzelne Gedicht gründlich lesen zu können,  nicht zuletzt als Ablenkung von bedrohlichen Zukunftsszenarien und Real-Dystopien und in spannungsreicher Neugier auf eine mögliche Widerspiegelung derselben in diesem – nicht nur für Liebhaber des Dunklen und Abtrünnigen – absolut (weihnachts-)geschenktauglichen Gedichtband.

Fährten des Grauens
Deutschsprachige Grusel- und Horrorgedichte, herausgegeben von Axel Kutsch
Illustrationen von Reinhard Kleist
Verlag Ralf Liebe
245 Seiten, ISBN 978-3-948682-25-5
EUR 22,00

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Ein Fingerhut voll Harz?
von Renate Maria Riehemann

Ein Fingerhut voll Harz – da darf man auch an den heute fast unbekannten Fingerschutz beim Nähen und an klebrigen Fichtensaft denken oder ganz einfach: Den Harz in den Hut stecken.

Ein kleiner Fingerhut gefüllt mit Harzer Wald und Höhen? Ein Fingerhut voll Saft, der aus den Rinden der Bäume quillt? Das Harz, ein Saft, der so voll Energie steckt, dass die Füllung eines Fingerhutes genügt?

Vielleicht ergibt aber ebenso die Umkehrung Sinn: Ein Harz voll Fingerhut, denn – der Harz leidet. Im Frühjahr 2020 sah man blühende Felder der giftigen Schönheit, die ohne Verzögerung die baumleeren Flächen des Harzes erobert.

Das lesenswerte Ergebnis der Ausschreibung zum 3. Literaturpreis Harz, das sich hier in diesem Band präsentiert, sind lustige, verrückte und fantastische, aber auch tiefsinnige und traurige Geschichten und Gedichte. Und manchmal spielt auch der Fingerhut dabei eine Rolle.

Glück Auf!

Renate Maria Riehemann (Hg.), Ein Fingerhut voll Harz
Anthologie zum 3. Literaturpreis Harz
Geest-Verlag Vechta 2020
ISBN 978-3-86685-816-9
284 Seiten, 12,90 €


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Ralph Grüneberger zu
Daniela Krien: „Der Brand“, Roman

Spätestens seit May Fair Lady hat der Literaturprofessor einen festen Platz in der Literatur, zu der selbstverständlich auch das Libretto zählt. Und meist kommt da auch die Konstellation: jüngere Frau und älterer Herr zusammen. So ließ es sich vor einigen Jahren bei Juli Zeh lesen und so liest es sich jetzt bei Daniela Krien. Im Unterschied zu „Unterleuten“ ist Kriens „Der Brand“ kein Mehrteiler, sondern eher ein Kammerspiel. Es sind die „Szenen einer Ehe“, die Dagmar Manzel auf

vier CDs zu Gehör bringt. Im Gegensatz zur Printausgabe erlaubt es das Hörbuch, in die Jahre gekommenen Ehe-Paaren (oder jenen, die dem Dilemma frühzeitig gegensteuern wollen) gemeinsam der Demontage der Gefühle von Rahel und Peter beizuwohnen. Die Stärke des Textes ist – trotz seiner teilweise redundanten Längen – die Rigorosität der Entlarvung der Macht der Gewohnheit.

Das Richtige für die Feiertage.

Daniela Krien: „Der Brand“, Roman
Diogenes Hörbuch, 321 Min.
Diogenes Verlag, Zürich, Schweiz 2021
Sprecherin: Dagmar Manzel
Regie: Joachim Schönfeld
Aufnahme: Alexander Nottny
Schnitt: Simone Frei
Mastering: Nikolaus Esche
Produktion: Studio_Wort, Berlin

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Ralph Grüneberger zu
Stellmäcke & Trotzband: Musikantisch und poetisch

Im ersten Jahr der Pandemie erschien Olaf Stelmeckes Weltsicht-Opus „Hinterm Mond“, denn der Wahlerzgebirgler weiß, wovon er singt, auch wenn er ins All abdriftet. Hießt es doch bei ihm „Hinter Mond kommt alles später / die Post, der Frühling und vielleicht auch du“. Und wunderbar irdisch ist das Erzähllied (mit dem etwas einfallslosen Titel) „Neulich“. Dieses Lied beschreibt, wie uns der Autor, Theatermensch und Liedermacher Stelmecke „hienieden“ (Heine) erhalten bleibt. Eine Stimme, die im sächsischen Mekka der Unvernunft umso wichtiger ist, versammeln sich doch gerade die Impfgegner im Land der Schwibbögen zum „Anlichteln“ vor den Kliniken, um gegen die Coronaschutz-Maßnahmen zu demonstrieren, während die Bundeswehr Intensivpatienten aus Sachsen in (noch) weniger belastete Bundesländer zur Behandlung ausfliegt.

Zu empfehlen ist ebenfalls die „gemischte Scheibe“, die gleichfalls neueren Datums ist „Sehnsucht nach DUR“, die Stellmäcke & Band mit der Sängerin Annett Illig aufgenommen haben. Diese vereint hiesige und, wie der Erzgebirger sagt, „uhies‘sche“ Lieder von Mercedes Sosa, Gerhard Gundermann, Barbara Thalheim oder Bertolt Brecht, einige auch von den Stellmäckes, so „Sehnsucht nach Dir“ und den Titelsong der anderen CD „Hintern Mond“.

Produktion beide:  MW Der gute Ton
Bestellungen an: info@stellmaecke.de


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Johanna Anderka zu
Verwicklungen



Von Eva Beylich, Jahrgang 1957, die mit ihrem Mann, dem Künstler Udo Beylich, in Tübingen lebt (beide Mitglieder der KünstlerGilde), ist ein neuer Gedichtband erschienen.

Obwohl sie erst 2006 mit Veröffentlichungen begonnen hat, kann sie bereits auf eine große Anzahl solcher in Anthologien und Literatur-Zeitschriften erschienenen Gedichte und auf einen eigenen Lyrikband zurückblicken.

Die Gedichte im neuen Band erzählen in einem bunten Kaleidoskop von Alltagserlebnissen, von Natureindrücken und zeitgeschichtlichen Begebenheiten. Auch über die Pandemie und ihre Folgen blitzen immer wieder Fragen und Gedanken auf. Alles kommt in einer offenen, ungekünstelten Sprache daher, gut lesbar und leicht verständlich.

Gern und oft benutzt die Autorin den Reim. „Der Lebensweg mäandert/durch schöne Nebenstrecken/ wer sich getraut, der wandert/ wohl wissend um die Ecken“ – Labyrinth, Seite 67.

Das ist zwar eine klare Aussage, der interessierte Leser wird aber durchaus zum Nachdenken angeregt und zu einer neuen Bewertung von scheinbar alltäglichen und meist unbeachteten Dingen.

Obwohl manchmal in einem wenig rhythmischen Prosaton geschrieben, sind die ungereimten Gedichte die sprachlich stärksten und überraschen mit schönen Bildern wie „… eilige Schritte verlassen/ die Vergangenheit, um/ in die endliche Zukunft / zu fliehen“ – Flucht, Seite 33.

Ebenfalls bildhaft, wenn auch vordergründiger, endet das Gedicht Schlafmohn, Seite 75: „… im metallischen Geklirr der Nachtzüge/ zieht niemand den roten Hebel – doch/ jetzt wurde plötzlich alles ausgebremst / so hatte man sich das nicht vorgestellt“.

Wenn es um selbstverursachte Probleme wie die Gefährdung der Umwelt geht, scheut sich Eva Beylich nicht, einen scharfen Ton und direkte Worte zu verwenden. Sie kann auch anders und macht aus einem Frühlingsgedicht mit einer Prise Humor einfach ein Frühlings-Gericht, Seite 43: „Krokusgeflammtes Wiesensüppchen/ … an wiesenschaumigem Löwenzahnsalat … Die Rechnung kommt/ im Herbst gefrostet“.

Nicht unerwähnt bleiben sollte die hübsche, geschmackvolle Aufmachung des Bandes, das Papier, das sich angenehm anfühlt und blättern lässt und der augenfreundliche Druck.

Leser, die eine Lyrik schätzen, die klar formuliert, was sie sagen will, die ohne Schnörkel und Verschlüsselung und ohne aufgesetzte sprachliche Überhöhung daherkommt, werden Freude daran haben, Eva Beylichs „Verwicklungen“ aufzurollen und ihrem poetischen Leitfaden zu folgen.

Eva Beylich, Verwicklungen
Lyrik, 120 Seiten
einhorn-verlag-druck Schwäbisch Gmünd 2021
ISBN 978-3-95747-117-8

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Ralph Grüneberger zu
Die Weihnachtsbibel



Welch ein Fest, dieses Buch (ein „Goldstück“ im Schuber) in den Händen zu halten. Da braucht es kein X-MAS-Spektakel mit LED-Gefunkel. Dieses Buch ist eines für ALLE Weihnachten, das gegenwärtige, das Pfarrer das Impfen predigen lässt, und die künftigen, bei denen hoffentlich wieder das Freudebringen vermittelt werden kann.

Das von Heinz Rölleke zusammengestellte und mit einem Vorwort versehene „Weihnachtsbuch“ ist ein Buch zum Vererben von Wissen und Gestalten (im doppelten Sinne). Was haben wir nicht alles vergessen! Weihnachten fängt zwar nicht schon im September an, wie uns die Discounter glauben machen wollen, aber es gibt ein Entree mit dem Todestag des Heiligen Martin, dem 11. November. Und das hiesige Weihnachten endet nicht am 2. Feiertag und nur im engeren Sinne am Dreikönigstag, sondern lässt auch Mariae Lichtmess, am 2. Februar, einbeziehen. Viel Zeit also für solch eine Weihnachtsbibel.

Nach einem profunden Abriss über die Tradition versammelt dieses Werk natürlich die Klassiker von Andersen bis Stifter, über E.T.A. Hoffmann und Dickens. Selbstredend darf bei einem Text-Kompositeur wie Heinz Rölleke ein Beispiel aus der Sammlung der Gebrüder Grimm nicht fehlen. Aber der bekannte Grimm-Forscher nimmt sich sehr stark zurück und gibt mit „Der Schlüssel“ eine einzige Seite aus dem Reichtum deutscher (Haus)Märchen bei. Eine freilich, die zum Weiterlesen verleitet.

Geerbte Dichtung findet sich viel (Goethe, Heine, Rilke z.B., nicht zu vergessen die Droste). Neuere entdeckt man allerdings keine. Das verwundert bei einem Herausgeber der Reihe wie dem Kenner zeitgenössischer Lyrik Christian Döring. Doch Tradition ist Prinzip. Und Autorinnen und Autoren treten hinter ihre Textur zurück. Sie alle bilden einen Chor. In „Unter dem Tannenbaum“ zitiert Theodor Storm ein Weihnachtsgedicht. Liedzeilen aus Arnims „Des Knaben Wunderhorn“ klingen an, desgleichen Friedrich von Spees „Oh Heiland, reiß die Himmel auf“ und weitere Kirchenlieder aus dem 17. und 18. Jahrhundert. Und Luther natürlich. Und als Lokalpatriot sei mir die Freude an „Ich steh an deiner Krippen hier“ vergönnt, geschrieben vom Sachsen-nahen großen Kirchenlieddichter Paul Gerhardt.

Es ist überdies der 444. Titel, der „Anderen Bibliothek“, der in einer limitierten Auflage von 3.333 nummerierten Exemplaren erscheint. Eine Punschzahl. D.h. etwas weihnachtliche Atmosphäre sollte beim Lesen und Vorlesen schon sein.

Das Weihnachtsbuch: zusammengestellt von Heinz Rölleke
Die Andere Bibliothek herausgegeben von Christian Döring
Aufbau Verlage GmbH & Co. KG Berlin 2021     
ISBN 978-3-8477-0444-7
300 Seiten, 44 € (Abonnenten haben auch hier Vorteile)