Duale Sicht auf die Welt – Therese Chromik: „Blau ist mein Hut“

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Empfehlung des Monats · März 2020
von Marianne Beese

Charakteristisches, das den neuen Lyrikband von Therese Chromik auszeichnet, zeigt sich bereits in dem titelgebenden Gedicht „Blau ist mein Hut“, das auch den Reigen der Texte eröffnet. Es heißt dort:

Ja
ich schlafe bei offenem Fenster/
mit Sommerhut
und mit Sandalen
blau ist mein Hut
und rosa die Sandalen
und gelb die Sternschnuppen
die sich an meine Verse heften
wenn ich über die Milchstraße gehe

Eine auf den ersten Blick alltäglich anmutende Situation weist über sich hinaus; allein durch die farbigen Akzente einer Gegensätzlichkeit – und sie weitet sich in Dichtung und Traum, ins Kosmisch-Überweltliche, aus. Diese Besonderheiten zeigen sich auch in anderen Texten des Bandes – als dessen Grundzug eine dualistische Sicht auf die Welt erkennbar wird, ein Wahrnehmen dieser in ihrer Widersprüchlichkeit, die eben deshalb zur lyrischen Gestaltung drängt, zu einem möglichen Ausgleich. Solche Gegensatzpaare, die Spannungspole in den Gedichten bilden, sind Verstand und Gefühl, Wesen und Erscheinung, Dauer und Vergänglichkeit, Schönheit und Zerstörung, Verwurzelung und Aufbruchssehnsucht, Realitätserfahrung und poetische Fiktion und anderes mehr.

Die dichterische Sprache, die sich dem Auffinden und Gestalten des Widersprüchlichen, bildlich oder in gedanklicher Verallgemeinerung, widmet, mutet eher lakonisch und verknappt an, doch vereint sie, dem dualen Weltbild gemäß, Konkretes und Abstraktes und folgt vielfach dem Prinzip der Modulation, der wiederholenden Abwandlung.

Inhaltlich-thematisch ist die Ausrichtung auf den ‚Norden‘ gegeben, wobei ein starkes Heimatgefühl ebenso wie große Naturnähe des lyrischen Subjekts zur Sprache gelangen. Meer, Strand, Deich und Schafe werden als Zubehör der Heimat benannt. Diese scheint eine immer gleiche, verlässliche Kulisse für Geborgenheit abzugeben, doch zeigt sie sich, vor allem in Gestalt des Meeres, veränderbar. Jenes wird zum Gleichnis des menschlichen Lebens wie auch zum janusköpfigen Abbild von Schönheit und Gefährdung oder, wie in dem Gedicht „Echolot“, zum Symbol der Poesie.

Grenzen die Texte meist an eine ‚andere Welt‘, welche die Realität übersteigt oder in diese hineinwirkt, so geschieht das auch in Form von Mythen, die Überzeitliches mit Heutigem verbinden. Das Gedicht „Der Stern I“ verweist auf die christliche Heilsgeschichte, lässt den Stern von Bethlehem und damit die Geburt Jesu assoziieren, die sich immer aufs Neue, und auch im heimatlichen Deichland, abspielt.

Als Vertreterin der heimischen Natur erscheint par excellence eine Pflanze: die Mohnblume. Sie ist real – und wird zugleich zum Symbol des Zwiespältig-Schillernden; ist „Pflanze der Unterwelt“ wie „Pflanze der Seligen“ gleichermaßen. Sie birgt Heilendes, doch ebenso Vergiftendes und wird damit zum Synonym vor allem für die Liebe. Sie verschlüsselt in sich aber auch die Wandlung von Trauer und Schmerz hin zur Poesie.

Sie weist hinüber zu weiteren Themen im Umfeld von ‚Kunst‘ und ‚Künstlern‘, denen sich eine Reihe von Gedichten widmet. Den Zusammenhang zwischen dem Dichter, dessen ‚brennende‘ Schöpferkraft eine wahre Geschichte entstehen lässt, und seiner ergriffenen Zuhörerschaft stellt der Text „Hans Christian Andersen“ her. Er übermittelt aber auch die Botschaft, dass die damalige, innige Beziehung zwischen Künstler und Rezipienten im Raum der Gegenwart nicht mehr neu belebt werden kann.

Dennoch bleibt auch dort die Frage nach dem Verhältnis zwischen Künstler und einem möglichen Gegenüber, das seine Kunstwerke aufnimmt, gültig. ebenso wie die nach der Wirkung von Kunst an sich.

Ein sehr starkes Angerührtsein, in diesem Falle durch bildende Kunst, hat das lyrische Ich an sich selbst erfahren. Es zeigt sich bei einem Aufenthalt in „Giverny bei Monet“ überwältigt von den Bildern des Malers, die in ihrer Schönheit alles Negative in der Welt abzuweisen scheinen. Anderswo wird die Wirkungsfähigkeit von Kunst eher in Frage gestellt, wird neben dem ‚Wunderbaren‘, das sie repräsentiert, auch das de facto ‚Überflüssige‘, das ihr zu eignen scheint, benannt.

Weitere, im Umkreis der Dicht-Kunst angesiedelte Texte fragen wieder stärker dem Ursprung und Ablauf des schöpferischen Prozesses selbst nach. Das geschieht mehrfach durch einen Rückgriff auf die griechische Mythologie. Die neben dem Sänger Orpheus vorgestellten antiken Götter erscheinen in ihrer überlieferten Gestalt – und sind doch ‚heutig‘ umgedeutet. So steht vor allem Hermes für das Prinzip der Dichtung, welches Zusammenfügen des Widersprüchlichen, ‚Auslegen‘ des Vorgefundenen und ‚Finden des Unsichtbaren‘ ist. Anderswo wird er zur Inkarnation poetischer Leichtigkeit, denn: „nur mit der Fußspitze berührt er den Erdball“.

Die Frage, welcher Zusammenhang zwischen Schöpfertum und vergehender Zeit besteht, werfen mehrere Gedichte auf, und es erfolgt u. a. die Aussage, dass Lebenszeit eine solche des „Wund“- und Orientierungslos-Seins, aber auch „Erzählzeit“ sei. Im Gedicht lässt sich die Zeit ‚überlisten‘ und ins Zeitlose wandeln. Andernorts wird der unmittelbare Vorgang der Wortfindung beleuchtet; das Zögerlich-Vorläufige, Fragile, das ihn ausmacht, das die Unsicherheit oder Unergründlichkeit der eigenen Identität zutage fördern kann – doch auch Erhellendes, ja Erleuchtendes hervorbringt.

Texte, in denen das lyrische Ich über verschiedene Arten von Gedichten nachdenkt – und solche, die der Aussagefähigkeit der Sprache nachspüren oder die den Umgang mit dem Wort in der Spanne zwischen ‚Schweigen‘ und gedankenloser oder inflationärer Verwendung hinterfragen, bilden eine weitere thematische Gruppe.

Leidet die Dichterin unter Symptomen eines Sprachverfalls und verwendet sie selbst Worte behutsam und bewusst, so mitunter auch abweichend von ihrer sonst üblichen Bedeutung. Es wird beispielsweise der Begriff „illegal“ auf das Verhältnis des Menschen zur Erde übertragen, wobei letztere in dem ganzen Ausmaß ihrer Bedrohung charakterisiert wird. Die Zeitsituation als eine durch Krieg und Gewalt aufgeladene – das wird mehrfach angesprochen; etwa auch, wenn in die Schein-Idylle bunter Illustrierter entsprechende Nachrichten eindringen und die letzte Zeile des Gedichts „Warten beim Friseur“ lautet: „wann kommen wir dran“.

„Das Erinnern, die Kunst und das Träumen“, letzteres als friedliches Wachträumen, werden dem Angstauslösenden und Kriegerischen immer wieder alternativ entgegengesetzt. Ebenso ist einer weiteren, bislang nicht selbstverständlich erfolgten Annäherung zwischen ‚Ost‘ und ‚West‘, das Wort geredet.

Lassen sich in den meisten Gedichten Gegensatzpaare auffinden, die konstituiert und lyrisch durchgespielt werden, so zählen dazu außer den schon benannten weitere, darunter ‚Aufgeklärtheit‘ und ‚Glauben‘ bzw. ‚gedankliche Mündigkeit‘ und ‚kindliche Einfalt‘ sowie ‚Jungsein‘ und ‚Alter(n)‘, wobei sich letzteres in ein neues Jungsein wandelt, sofern dem veränderten Status Rechnung getragen wurde. Die Frage nach der Endlichkeit des Lebens stellt sich dennoch unabweisbar – und mit ihr die nach dem Wesentlichen bzw. Unwesentlichen innerhalb der Existenz eines Menschen.

Erschütternd sind die Gedichte, die von Sterben, Abschiednehmen, Trauerbewältigung und Totengedenken handeln. Dabei ruft sich die Dichterin vor allem den frühen Tod ihres Mannes ins Gedächtnis – doch auch das Sterben der Mutter. Die dichterische Sprache vollzieht Bewegungsabläufe nach, die in Stille und Dunkelheit münden.

Im Laufe des Trauerprozesses aber kehrt der oder die Verstorbene gleichsam zurück; ist anfangs noch zugegen in gespeicherten Worten und Sätzen, geäußerten Gedanken und Gefühlen, die abrufbar sind, dann auch in Bildern, Strukturen, Klängen der Umwelt – selbst im Tosen eines Sturms. Grundsätzlich überdauern die Verstorbenen in der Erinnerung – und eben im Gedicht. Eines thematisiert in variierender Wiederholung, dass „Mutters letztes Wort“ – „Tränen trocknen“ – selbst ein Gedicht gewesen sei.

Von einer Rückkehr der Trauernden ins Leben kündet eine Reihe von Texten, die von Kindern handeln; meist den eigenen bzw. den Enkelkindern – und einen Blick auf die Welt mit deren Augen zu werfen suchen, ihre gefühlsmäßige Unmittelbarkeit und Phantasie dankbar miterleben. Auch das Motiv „Liebe“ taucht in den späteren Gedichten des Bandes nochmals auf, wird verallgemeinernd, doch auch in Episoden, die Erfahrenes wiedergeben, dargestellt. Darin ist ausgesagt, dass ‚Liebe‘ wieder möglich wurde und wird, wenngleich in der charakteristischen Zwiespältigkeit („zweipolig“) oder vom Scheitern bedroht – was vereinzelt auf selbstironische, ja vertrackt-komische Weise ausgesagt ist. Auch für ‚Liebe‘ erscheint als der verlässlichste Ort ihres Bewahrens das Gedächtnis.

Resümierend bleibt festzuhalten: Mit ihrem Band „Blau ist mein Hut“ ist Therese Chromik eine intensive, ebenso durch Nachdenklichkeit geprägte wie von Emotionalität getragene, hochpoetische Erkundungsreise durch Zeit und Raum, Innenwelt des ‚Ichs‘, Überlieferung und Gegenwart gelungen, der man mit Genuss und Gewinn folgt – und die man auch anderen zur Lektüre empfehlen möchte.

Therese Chromik, Blau ist mein Hut: Gedichte
Band 1 von Takt&Metrik
Verlag Vorwerk 8, 2019
ISBN 978-3947238118
123 Seiten, 19,00 Euro