Die neue allmende: Zeitenwende

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Empfehlung des Monats · März 2021
von Franziska Röchter

Die allmende – Zeitschrift für Literatur erschien erstmals 1981. Ursprünglich wurde sie von einer Gruppe süddeutscher Schriftsteller und Kulturschaffender gegründet, von denen etliche – u.a. Martin Walser, Adolf Muschg und André Weckmann – später auch Mitherausgeber waren.

Interessant ist die Bezeichnung dieser zweimal pro Jahr erscheinenden Zeitschrift. „Der alte deutsche Rechtsbegriff Allmende bezeichnet ein Gemeinde-Eigentum, dessen Nutzung allen Mitgliedern einer Gemeinde zur Verfügung steht.“ (s. Wikipedia) Der ursprüngliche Anspruch war, „in allen literarischen, essayistischen und dokumentarischen Formen und Genres einen exemplarischen Dialog über Vergangenheit und Gegenwart der allemannischen Region“ aufzunehmen (s. ebd). Die Herausgeber wollten grenzüberschreitend Begriffe wie „Weite und Nähe, Heimat und Fremde“ sich gegenseitig durchdringen lassen, die Zeitschrift wurde als „Kritische Heimatkunde“ bewertet.
Seit Ende der Achtzigerjahre fokussiert sich die allmende auf Themenschwerpunkte von überwiegend allgemein-gesellschaftlichem und kulturellem Interesse: Kulturpolitik in der Krise (48/49, 1996), Lyrik (70/71, 2001), Junge Autoren (75, 2005), ars poetica (78, 2006), Heimat (83, 2009), Liebe, Lust und Leidenschaft (86, 2010), Gedichte (89, 2012), Berlin (92, 2013), Krise der Männlichkeit (93, 2014), Neuer Antisemitismus (98, 2016), Neuer Feminismus (104, 2019) sind nur einige der Themen, derer sich die allmende annahm und annimmt (s. www.allmende-online.de).

Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der allmende (100 Ausgaben in 36 Jahren) im Januar 2018 gestanden Herausgeber Hansgeorg Schmidt-Bergmann und Redakteur Matthias Walz in einem Interview mit den Karlsruhe News, die allmende verstehe sich von der Gründung an als eine Literaturzeitschrift im politischen Kontext, die als grenzüberschreitendes Periodikum der gesamten deutschsprachigen Literatur und gerade auch der jüngeren Generation ein Forum bieten wolle.

Dass sich sie aktuelle Ausgabe Zeitenwende dem Umgang mit der weltbeherrschenden Corona-Pandemie annimmt, mutet somit nicht verwunderlich an. Dem Editorial vorangestellt ist ein Zitat aus dem Vorgängerheft Die Welt neu denken. Vom Anthropozän zum Novozän? (105, 2020), das der Medienwissenschaftler und Künstler Peter Weibel als Vermutung / Behauptung in den Raum stellt: Sinn und Zweck des Virus sei es, uns „mit aller Macht in das digitale Zeitalter zu schieben“. Bereits hier, ganz eingangs, kommen dem einen oder anderen Leser sicher noch weitere aus der Pandemie hervorgehende plausible side effects in den Sinn. Vom lediglichen Beschleunigen sich eh schon in Gang befindender gesellschaftlicher Entwicklungen und Prozesse durch das Virus ist weiter die Rede (Michel Houellebecq), von den verheerenden sozialen, ökonomischen und rechtsstaatlichen Folge. Ging es in Ausgabe 105 (Die Welt neu denken) noch um die ersten Erfahrungen mit der Pandemie, so widmet sich die Ausgabe Zeitenwende den Auswirkungen auf die Zukunft, den Folgen, Ängsten und Perspektiven. Das Gute daran ist, dass dieses uns seit über einem Jahr aus sämtlichen Kanälen zuflutende Thema hier in einer literarischen Bandbreite und Formenvielfalt daherkommt – kann man sich doch kaum an ein Thema erinnern, welches in so allumfassender Ausschließlichkeit und mit so viel Nachdruck für unsere Beschäftigung mit demselben sorgte und wahrscheinlich noch sorgen wird.

In „Tischgespräche zur Gegenwart“ tauschen sich Vea Kaiser, Ursula Poznanski, Clemens Berger und Marc Elsberg über erlebte Ausnahmesituationen  innerhalb der aktuellen „Krise“ aus und darüber, wie die Realität die beste Fiktion einholt. Wie sich ursprünglich als positive empfundene Effekte der Pandemie – z.B. Zeitersparnis – durch den ständigen Zwang zur Informationsbeschaffung doch schnell wieder aufheben. „Die richtig guten Romanplots sind die von den Verschwörungstheorien“, meint Ursula Poznanski, während Marc Elsberg sich zum Beispiel die Frage stellt, ob diese „Krise“ etwas mit der Literatur macht und wenn ja, was – hält er doch die Literatur für „ein aussterbendes Ding“.

Bernhard Pörksen (Germanistik, Journalistik, Biologie) schreibt in seinem Essay „Zivilisationstest“ über die durch eigene und unmittelbare Angstreflexe hervorgerufene transformative Wirkung der Corona-Krise. Hier gehe es eben nicht nur um eine Gefahr für Andere, für den Nächsten, für die Spezies allgemein, sondern jeder Einzelne sei selbst unmittelbar betroffen oder könne getroffen werden. Pörksen stellt die Frage, ob es der Menschheit gelingen könne, sich unabhängig von der aktuellen realen Gefahrensituation so weit zu entwickeln und ihr Vorstellungsvermögen so weit zu schulen, dass sie im Hinblick auf zukünftige Gefahren jetzt schon Konsequenzen oder folgerichtiges Verhalten ableiten könne und wie wir darüber hinaus zukünftig leben wollen.  

Insa Wilke, freiberufliche Literaturkritikerin und Moderatorin, glaubt nicht, dass ein neues „Genre“ Corona-Literatur entstehen werde, da der für die meisten gleichermaßen un-/spektakuläre Stoff keine aufregende Lektüre produzieren werde – sie verweist auf die Intelligenz und den Humor einer Marlene Streeruwitz und auf ihr persönlich als Zeitenwende empfundenes Jahr 1989 (Insa Wilke, „5 Fragen – 5 Antworten“, eine Rubrik, die ebenfalls in dieser Ausgabe von Nadja Küchenmeister, Philipp Staab, Peter Stamm, Eva Menasse, Simon Strauß, Andreas Rödder und Peter Schneider bespielt wird).

Zwischen den eher sachlich fokussierten Beiträgen findet sich eingestreute Lyrik von Jan Wagner („de vita caroli quarti“) und Ulrike Draesner (wunderbar beginnend mit: „vermooste hose: wie wir nun ranzen“), Martin Walser, Nadja Küchenmeister und Lutz Seiler,  dazwischen ein Corona-Tagebuch (40 Tage) von Lena Gorelik und eines von Peter Stamm. Neugierig macht ein Auszug / Vorabdruck aus Eva Menasses neuem Roman Dun­kelblum, der im Herbst 2021 im Verlag Kiepenheuer & Witsch erscheinen wird.

„Was werde ich von diesem Sommer
dem nächsten sagen?
Dass er nicht zu fassen war, …“

lesen wir von Martin Walser in einem Auszug aus seinem neuen Band Sprachlaub oder: Wahr ist, was schön ist, der am 23. März 2021 im Rowohlt Verlag erscheint, und hoffen, dass wir von diesem Sommer mehr werden sagen können, als „dass er wie ein Streichholz war,/ das dir abbrennt zwischen den Fingern …“

In „5 Fragen – 5 Antworten“ beschreibt Nadja Küchenmeister sehr treffend eine Situation nach der Veröffentlichung ihres kurz vor dem ersten Lockdown erschienenen Gedichtbandes, die wahrscheinlich sehr viele Künstlerinnen und Künstler nachempfinden können: „… in den darauffolgenden krisenhaften Wochen und Monaten mochte ich erst einmal nicht mehr an Gedichte denken. Warum auch? Ich hatte ein Buch geschrie- ben, es sollte leben dürfen. Mir kam alles sinnlos vor, demnach drängte mich nichts an den Schreibtisch …“ Und resümiert, dass man derzeit wohl jeden Menschen verstehen könne, der traurig und verzweifelt ist.

Interessante Rezensionen zu Büchern über das Corona-Virus runden dieses textliche Kaleidoskop innerhalb der intergalaktischen Corona-Area ab. Am Ende gibt es noch eine schnelle Fahrt auf dem Preiskarussell der Literatur, die verdeutlicht, dass wenigstens hier noch einiges beim Alten ist. So bietet diese vielseitige Sammlung literarischer und sachlicher Auseinandersetzung mit der „Krise“ letztendlich weitaus mehr als eine akademische Momentaufnahme, sondern lässt uns teilhaben an der persönlichen Betroffenheit literarisch tätiger Künstler*innen.
  
Die Zeitschrift allmende sollte man im Auge behalten.

allmende 106
Zeitenwende – 106. Ausgabe der der allmende – Zeitschrift für Literatur

Dezember 2020 | 40. Jahr
104 Seiten, Br., 160 × 240 mm, s/w-Abb.
Mitteldeutscher Verlag
Einzelheft € 12 / sFr 16,80
ISSN 0720-3098
Einzelbezug: ISBN 978-3-96311-505-9
Abobezug: ISBN 978-3-96311-506-6
12,- € / 16,80- sFr