Dieser eine Tag, der Abend der Lyriklesung

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Empfehlung des Monats · Januar 2019
von Ralph Grüneberger

Als am 6. Dezember 2018 im neuen Saal der Gemeinde Knauthain der gemeinsam vom Förderverein Elsterstausee und Pro Leipzig herausgegebene opulente Foto-Text-Band „Der Leipziger Elsterstausee. Vom Anfang bis zu seinem Ende“ vorgestellt wurde, mussten vom Eingang aus Stühle weitergereicht werden, damit alle Interessierten Platz fanden. Das Bild erinnerte an die Kette derer, die 2002 Eimer gefüllt mit Elsterwasser weitergaben, um das Verlanden des Stausees aufzuhalten.

Nun ist das Buch über den Elsterstausee im Leipziger Südraum kein Lyrikband und wird dennoch an dieser Stelle empfohlen. Denn ein einziger Tag im Leben dieses ab Juli 1933 künstlich angelegten Sees gehört der Lyrik. Auf dem Fahrgastschiff „Immer bereit“ fand am 26. Juni 1968 jene nicht genehmigte Lyriklesung statt, die Siegmar Faust und Andreas Reimann geplant und zu der Ersterer kurzerhand per Mundpropaganda – getragen von der Aufbruchsstimmung des Prager Frühlings – eingeladen hatte. Dieses Ereignis, das wir mit unserer Ausstellung „gegen den strom“, die bereits mehr als 36.000 Bescher zählt, deutschlandweit bekannt gemacht haben, zuletzt in der Gedenkstätte Bautzner Straße in Dresden, ist in Knauthain nur wenigen bekannt. Ein gedungener Berichterstatter, Informativer Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR, der den Eindruck vermittelte, ein Freund des Organisators zu sein, fand den Begriff „Riverboat-Lesung“ für seinen Spitzelbericht. Und es ist dem Herausgeber Dr. Thomas Nabert zu danken, dass er die Gelegenheit ergriffen hat, diesen einen Tag in der über 80-jährigen Geschichte des Elsterstausees zwischen die beeindruckten Zahlen von Segelregatten, tonnenweisem Karpfenabfischen, Eissegeln und sommerlicher Naherholung setzen zu dürfen.

Wenn die Sohle des Sees heute Schafherden durchstreifen, Wildschweine die Gärtner und Siedlungshäusler ringsum plagen, die Natur sich das Gelände teilweise zurückholt, wird fortan auch eben jenes Abends gedacht werden, an dem Heide Härtl, Wolfgang Hilbig, Dietrich Gnüchtel, Bernd-Lutz Lange, Gert Neumann, Kristian Pech, Andreas Reimann und viele andere an Bord waren – und deren Hoffnung auf einen „Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ mitschwang. Andererseits setzte angesichts der herumgereichten Fotografien von der etwa drei Wochen zuvor gesprengten Universitätskirche St. Pauli sehr schnell wieder die Ernüchterung ein. Für das herrschende System folgerichtig ordnete es Exmatrikulationen einzelner Studenten und für den Organisator Siegmar Faust die Ausweisung aus Leipzig an.

Ralph Grüneberger

 

Familie im Strandbad Elsterstausee, um 1985
Am Steg des Passagierschiffes „Freundschaft“, 1962

Stauseefischen, 2005

 

Der Leipziger Elsterstausee
Seine Geschichte vom Anfang bis zum Ende
Herausgegeben von Pro Leipzig e. V. u. Förderverein Elsterstausee, Leipzig 2018

geb. 168 S.
ISBN 978-3-945027-30-1

Verlagsankündigung

Der Leipziger Elsterstausee ist Geschichte. Wo einst Wellen spielten, Badende sich vergnügten, Segel gesetzt, die „Immer bereit“ in See stach und bis zu 300 Tonnen Karpfen (jährlich!) abgefischt wurden, dort liegt heute eine weite, trockene Ebene, in der Schafe und Ziegen weiden. Der See war wohl einer zu viel im Leipziger Neuseenland. Er wurde aufgegeben, trotz umfangreicher Anstrengungen für seinen Erhalt, trotz der Tatsache, dass er der erste und für Jahrzehnte auch der einzige Ort in und um Leipzig war, an dem maritime Träume ausgelebt werden konnten. Das Buch erzählt erstmals umfassend die facettenreiche Geschichte des Leipziger Elsterstausees, begleitet von fast 240 bisher unveröffentlichten Abbildungen.