Empfehlung des Monats · Januar 2018
von Ralph Grüneberger
In der noch vom Ober-Ausleser Marcel Reich-Ranicki herausgegebenen Sammlung „Hundert Gedichte des Jahrhunderts“, die zehn Jahre nach dem Ende der deutschen Teilung lediglich drei Gedichte zweier in der DDR verbliebener Lyriker zur Jahrhundertausbeute zählt, ist immerhin ein Gedicht von Johannes Bobrowski zu lesen. Ein Werturteil des Literaturgrantlers und eine Anregung gleichermaßen.
Im Jubiläumsjahr eben dieses 1917 geborenen Dichters erschienen, herausgegeben von Werkkenner Eberhard Haufe und mit einem empathischen Nachwort von Helmut Böttiger versehen, in der Deutschen Verlags-Anstalt dessen „Gesammelte Gedichte“, die zum Besten des Buch-Jahrgangs 2017 zu zählen sind.
Den intensiven Leser erwartet ein solches Füllhorn, dass er mit einer Handvoll Lesezeichen nicht auskommen wird. Der Aufbau des prallen Buches bietet neben der Übersicht der alphabetisch angeordneten Gedichtanfänge zwei umfassende Teile. Der erste vereint die beiden von Bobrowski noch selbst zusammengestellten Lyrikbände „Sarmatische Zeit“ (1961) und, „Schattenland Ströme“ (1962) sowie den dann schon postum veröffentlichten Band „Wetterzeichen“ (1966), die den reichen lyrischen Ausstoß von 12 Jahren
(1954 bis 1965) verdeutlichen. Ihnen nachgestellt finden sich u.a. „Verstreut veröffentlichte Gedichte“ und Nachdichtungen. Der Teil II bietet eine Auswahl von den lyrischen Anfängen (ab 1935) bis zum poetischen Nachlass, des bereits 1965 verstorbenen Schriftstellers, der sich vor allem auch als Prosaautor mit „Levins Mühle“ und „Mäusefest“ einen Namen gemacht hat.
Knapp fallen hingegen die von Dietmar Albrecht zusammengestellten Lebensdaten aus, so dass sich die Wertung von Helmut Böttiger als willkommene Ergänzung liest. Er ordnet den die Gruppe 47 verblüffenden Johannes Bobrowski als deutschen Dichter in der DDR und nicht als „DDR-Dichter“ ein (denn wer spräche bei Grass von einem „BRD-Dichter“) und gibt Bobrowski die Größe, die seine Verse schon ausmessen lassen.
Jetzt, da die Tage wieder länger werden, könnte dieses Gedicht eine Vorfreude sein und auch eine Vor-Reise in diese Landschaft im heutigen Weißrussland; es schrieb Johannes Bobrowski im Mai 1968:
IN DER REUSE ZEIT
Sommer, schräg,
gelehnt an den Hang
die Schultern voll Wald
und die Felder herauf,
über die Bäche, die runden
Hügel der bäurische Schrei.
Leicht: Goralenjahr, Burschengelächter
von den brokaten Mädchen her –
oder ein Lied aus Sand,
am Ufer gesungen
der Wilejka,
Fisch, in der Reuse Zeit –
Blume, hart im geballten Laub –
Salzschaum und Nessel, die scharfe
Flamme Frost,
trifft dich inmitten ländlicher
Metren Homers. Wie werden
Bilder erreichbar, Figuren,
aus Schatten die Zeichen – ?
irgendwann aufgekommen
nur mit der ungewohnten
Vertrautheit: einer ging,
ein Tier, im Gefild
und trank aus dem Strom.
Eine aufschlussreiche Neben-Lektüre bietet überdies der teilweise faksimilierte Briefwechsel „Johannes Bobrowski – Peter Huchel“, der 1993 in Marbach a.N. erschienen ist und gleichfalls von Eberhard Haufe herausgegeben wurde. Er zeigt den Autor Bobrowski als einen, der die Zeitschrift „SINN UND FORM“ zunächst intensiv las und sich mit ihrem Inhalt befasste, bevor er sich, seine anfängliche Zurückhaltung aufgebend, mit Einsendungen an die Redaktion wandte. Beispielhaft.
(c) Ralph Grüneberger
Johannes Bobrowski, Gesammelte Gedichte
Deutsche Verlags-Anstalt (März 2017)
752 Seiten, ISBN 978-3421047-62-5