TENTAKEL Literaturmagazin aus OWL „Spuren und Wege“ – eine „Versammlung“ fantastischer „Schreibspuren“

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Empfehlung des Monats · Juni 2020
von Jule Weinrot

Als die Macher der mittlerweile über die Landesgrenzen hinaus bekannten OWL Literaturzeitschrift Tentakel die thematische Richtung festlegten, ahnten sie möglicherweise noch nicht, wie passend ihr Thema zur Mitte des Jahres im Hinblick auf das Weltgeschehen sein würde. Der ungebrochene Wille, ein Kaleidoskop nennenswerter regionaler Literatur zu sein, diese sichtbar zu machen, immer mehr auch beachtenswertes bildnerisches Gestalten aus Ostwestfalen einzubeziehen sowie auf Neuerungen und Strömungen im literarischen Geschehen der Region hinzuweisen, hat die Herausgeber*innen von ihrer bewährten Gewohnheit einer Live-Redaktionssitzung abgebracht und erstmals eine Ausgabe entstehen lassen, die ausschließlich auf virtuellem Wege zustande gekommen ist.
Dass diese Vorgehensweise dem Ergebnis keinen Abbruch tut und ein zukunftsträchtiges Procedere  ist, beweist die 2. Ausgabe des 3 x jährlich erscheinenden Literaturmagazins mit dem vielseitigen Titel „Spuren und Wege“.

Während über viele Jahre der Bielefelder Lyriker Hellmuth Opitz Teil des Redaktionsteams war, nimmt nun schon länger – neben dem Urvater (seit 1978) der Jugend schreibt-Bewegung Matthias Bronisch, dem libertären postanarchistischen Theoretiker und Lyriker Dr. Ralf Burnicki, dem langjährigen Pädagogen und Lyriker Peter Bornhöft – die Krimipreisträgerin Mechtild Borrmann (Wer das Schweigen bricht, Deutscher Krimi Preis 2012) diese Rolle ein; erweitert wurde das Team des 2007 gegründeten Literaturmagazins um die freie Journalistin und Autorin Antje Doßmann.

Redaktionsteam Tentakel: Peter Bornhöft, Mechtild Borrmann, Matthias Bronisch, Ralf Burnicki, es fehlt: Antje Doßmann
Radierung: Matthias Bronisch

Denn sicher ist: Die Region um Bielefeld und Ostwestfalen sprudelt nur so vor literarischen Talenten. So ist auch die aktuelle Ausgabe der Tentakel – apart ummantelt von 2 Radierungen des auch als bildender Künstler tätigen Schriftstellers Matthias Bronisch – dessen Fossilien ein bildnerisches Synonym für das Wort Spuren sind, seine aufsteigende Treppe auf der Rückseite des Magazins ein visuelles Äquivalent für Wege – wieder ein Stelldichein unterschiedlichster künstlerischer Multitalente, von denen einige im Hinblick auf die Pandemie 2020  bereits literarische Spuren hinterlassen.

Während Rolf Birkholz den Seuchenfrühling, nach Celan und Proust bedichtet, lässt Robin Varcoe Biggs in seinem 2020 (mit Bezug auf Wilfred Owen) das Zukunftsträchtige, das Hoffnung schürende ( „… a fast-forward / Into the future / Where we always hope …“) des „invisible enemy“ durchscheinen; Franziska Röchter schreibt von einem „Fassadenclown“, der die „pseudoallmächtige corona der schöpfung“ regiert, und der wie ein auszufüllendes Formular (ein Antrag auf Kulturförderung in Corona-Zeiten?) wirkende Text Wer bestimmt von Barbara Daiber sorgt allein mit Versatzstücken wie „wer bestimmt_____welche sätze___ wir nur leise denken oder gar nicht denken_____welcher wahrheit wir glauben______wer wichtiger ist____“ für einen mehr als aktuellen Bezug im Hinblick auf systemrelevante und informationspolitische Fragestellungen. Barbara Daiber, ebenfalls Stimme des jungen Künstlerkollektivs „lichtstreu“, ein Lyrikprojekt von Autor*innen aus Melle, Herford und Bielefeld, liefert ebenfalls die bildnerische Grundlage Organschrift für eine vierstimmige Kollektivarbeit zum Thema „Spuren und Wege“, an der neben Ralf Burnicki auch die Lyriker*in Elke Engelhardt und Lothar Flachmann beteiligt sind. Ralf Burnicki, promovierter politischer Philosoph, schreibt u.a. in seinem lyrischen Text Lesen lernen:

Kann ich nur sehen, was ich weiß
oder weiß ich nur, was ich sehe?

[…
…]
Was ist ein Weg, wenn er nicht
begangen wird?

[…
…]
Doch sprichst du vom Nichts,
blättert es neue Seiten auf
zwischen uns.
[…
…]

Neue Seiten blättert auch der Schriftsteller und Rezitator Michael Helm mit seinem verstörenden Prosastück „Die Prozedur“ auf, das bis zum Schluss durch einen stetig ansteigenden Spannungsbogen die Neugier des Lesers wachsen lässt. Nur so viel sei verraten: In Zeiten, in denen wir kontinuierlich angehalten werden, auch unseren „letzten Weg“ im Vorfeld gründlich durchzuorganisieren und bis ins Detail zu planen, ist eine Regulierungsbehörde, ein Amt mit Entscheidungsgewalt über den Zeitpunkt des Endes, nichts Unvorstellbares mehr und passt trefflich ins aktuelle Diskussionsgeschehen rund um das Virushandling. Zum Glück lässt Matthias Helm genug Spielraum für die Fantasie des Einzelnen, wie genau diese Behörde mit ihrer mysteriösen Nummernvergabe (Ziehung eines Loses?) arbeitet. Soll unser „letzter Weg“ Glückssache sein oder haben wir durch eine lückenlose, politisch korrekte Selbstverwaltung hier noch ein Wörtchen mitzureden?

Wie Lebenswege anders hätten verlaufen können, wenn … ja, wenn man sich eben „vor 23 Jahren“ anders entschieden hätte, und welche Spuren die einmal getroffene Wahl beim Individuum hinterlassen kann, beschreibt sehr berührend Katrin Brewitt in ihrem Text HALE-BOPP, der in tagebuchähnlichen Sequenzen auch zu einer Rückschau auf das eigene Leben einlädt und gleichsam eine Brücke schlägt zu Eckart Balz‘ Stillgelegte Gleise (nach dem gleichnamigen Titel seines Buches), die äußerst verdichtet anhand „junger Birken“, die aus „toten Gleisen“ sprießen, den berühmten Neuanfang verdeutlichen, der jedem Ende innewohnt.
Viola Richter-Jürgens‘ surreales Fadenspiel, aus den Zwillingsepisoden beleuchtet mit Elementen aus der Welt des Makaberen das zweischneidige Schwert des vergötterten Einzelkinddaseins in einer durch Krankheit und kindlicher Phantasie verzerrten grotesken Wahrnehmung. Ob die Autorin eine gänzlich andere literarische Intention hatte, tut der dystopischen Lesewirkung keinen Abbruch, ihre an Alice im Wunderland erinnernde langbewimperte Kussmundspinne ist jedenfalls eine der originellsten bildnerischen Spinnendarstellungen seit Langem.


Andrea Köhn, ohne Titel (I. 8/14)
Mischtechnik / Leinwand
100 x 140 cm, 2014


Kurzum: Den Herausgebern ist wieder ein äußerst abwechslungsreiches und interessantes Magazin mit wunderbaren Bildern, u.a. von der Bielefelder Künstlerin Andrea Köhn, mit lyrischen Übersetzungen aus dem Italienischen (u.a. Alfonso Gatto, September in Venedig) von Erica Natale, mit insgesamt 35 Künstlerinnen und Künstlern gelungen, das es zu entdecken gilt; und auch wenn man aufgrund der besonderen Umstände meinen könnte, dieses Jahr habe doch „eben erst“ angefangen, so zeigt Antje Doßmann (u.a. auch Chefredakteurin des jungen Online-Magazins RƎSONANZEN, Kultur in Ostwestfalen-Lippe) in ihrer „Berliner Spätsommerelegie“ Eitler Sonnenschein aufs Trefflichste poetisch, dass man unweigerlich schon an das Ende des Jahres denken muss, es aus verschiedenen Gründen vielleicht sogar herbeisehnt:

Antje Doßmann
Eitler Sonnenschein
(Auszug)


es herrscht Ende
September
in Berlin
Armut
Einwanderung
einundzwanzigstes Jahrhundert.


die Sonne steht tief
der Sommer hat schon
seinen Hut genommen
verweilt aber noch
in der Krone
auf ein Schultheiß oder zwei
und ich denke:
dieses hier ist wirklich
einer der letzten
schönen Tage                      

Um es abschließend mit den Worten Peter Bornhöfts aus seinem Text Versammlung zu sagen: „Ich sammle mich gern in meinen Sammlungen“, aber habe nicht das Gefühl, da „sogleich im schönsten Durcheinander“ zu sein, denn das von Peter Bornhöft beschriebene „fantastische Tohuwabohu“ bezieht sich u.a. auf „ein Wirrwarr unzeitgemäßer Gedanken“, auf „Kofferworte“, die „schon unterwegs“ sind, auf viktorianische Sammeltassen und antiken Trödel; was aber durchaus auch auf die neue Tentakel zutrifft, ist das Atemberaubende, der Enthusiasmus, das Sagenhafte, die Begeisterung über die Literatur und Kunst, die einen „nicht aus den Fängen“ lässt.


Tentakel Literatur Magazin
Spuren und Wege, 2_2020
ISSN  2191-690X
erhältlich im Abo 16 EUR (3 Magazine im Jahr, Porto und Versand  inklusive), Einzelexemplar 3,50 EUR
redaktion_tentakel@yahoo.de
https://www.matthias-bronisch.de/tentakel-literaturmagazin/